Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
erwähnt habe, übernehme ich dieses Wort in der besonderen Bedeutung, die es bei Gorkij bekommt. »
Perlmann sah das mit braunem Straßendreck überzogene Blatt vor sich, wie es auf der Landkarte gelegen hatte, die jetzt aus Leskovs Jackentasche hervorguckte.
«Ein Hauch von Plagiat», lächelte Leskov,«aber wirklich nur ein Hauch. »
Perlmann löste die Hand mit der Zigarette probeweise von der Reling: Nein, äußerlich zitterte sie nicht; das Zittern war nur in der Empfindung. Er inhalierte tief, und aus dem Brennen in der Lunge heraus wünschte er sich die Macht, dieses entsetzlichste aller Wörter, PLAGIAT, mit einem Schlag aus den Köpfen aller Menschen auslöschen zu können, so daß er es nie, niemals wieder, hören müßte. Dafür, dachte er, wäre er zu jedem, wirklich jedem Pakt mit dem Teufel bereit.
«Das Thema, das mit diesem Wort verbunden ist», fuhr Leskov fort,«nimmt bei Gorkij dann eine besonders dramatische Form an, indem es mit der Idee eines Traumas verbunden wird. »Er sah, wie Perlmann den Kopf wegdrehte.«Langweile ich dich?»
Perlmann sah ihn kurz an und schüttelte den Kopf.
«Klim Samgin nämlich sieht eines Tages, wie ein anderer, von ihm gehaßter Junge beim Schlittschuhlaufen auf dem Fluß einbricht und zusammen mit seiner Begleiterin in einem Eisloch verschwindet, wobei das Mädchen sich an ihn klammert und ihn hinunterzieht. Er sieht die roten Hände des Jungen, die sich an den Rand des Eises klammern, und seinen glänzenden Kopf mit dem blutigen Gesicht, der ab und zu aus dem schwarzen Wasser auftaucht und um Hilfe schreit. Klim, der auf dem Eis liegt, wirft ihm das eine Ende seines Gürtels zu. Doch wie er spürt, daß er immer näher ans Wasser gezogen wird, läßt er den Gürtel aus der Hand rutschen und weicht kriechend vor den roten Händen zurück, die, indem sie immer mehr Eis abbrechen, auf ihn zukommen. Und mit einemmal ist da nur noch die Mütze des Jungen, die auf dem Wasser schwimmt. »
Leskov machte eine Pause und suchte Perlmanns Blick. Die roten Hände, die immer näher kämen: Ob er nicht auch finde, das sei ein Bild, das einen verfolgen könne?
Perlmann nickte. Er war froh, daß die Dämmerung jetzt rasch hereinbrach.
«Gorkij nennt die Hände nicht nur rot. Er gebraucht einen Ausdruck, der stärker ist, eindringlicher. Aber ich komme jetzt nicht drauf», sagte Leskov.«Jedenfalls: Am Schluß dieser Szene läßt er jemanden sagen: Da - bylli mal’čik-to, možet, mal’čika-to i ne bylo?»
Perlmann, der sofort verstanden hatte, beantwortete seinen fragenden Blick mit einem Kopfschütteln.
«Ja – ist denn überhaupt ein Junge dagewesen, vielleicht war gar kein Junge da? So müßte man wohl übersetzen», sagte Leskov.«Und du siehst: Diese Frage, die an späteren Stellen wie ein Leitmotiv wiederkehrt, nimmt das Thema des Erdichtens auf. »
Es kamen bereits die Lichter von Portofino in Sicht, als Leskov vom Gefängnis zu erzählen begann. Knapp drei Jahre hatten sie ihn eingesperrt. Nein, keine Folter, und auch keine Einzelhaft. Ganz gewöhnliche Haft, zu Beginn zu viert in einer Zelle, später allein. Nichts lesen zu können, das war in den ersten Monaten das Schlimmste gewesen. Nach einem halben Jahr dann hatten sie, es war wie ein Wunder, seiner Mutter erlaubt, ihm Gorkijs Roman zu bringen. Sie hatte keine Ahnung vom Inhalt, sie war in einem Ramschladen darauf gestoßen und hatte ihn vor allem seines Umfangs wegen erstanden. Zweitausend Seiten für so wenig Geld!
«Was es damals für mich bedeutet hat, diese Bände in den Händen zu halten und ihr Gewicht zu spüren – es ist unmöglich, das in Worte zu fassen», sagte Leskov leise. Er hatte den Roman im Laufe der verbleibenden Gefängniszeit vierzehnmal gelesen. Hunderte von Szenen kannte er auswendig.
«Das Thema des Erdichtens hat mich sofort gepackt. Aber es hat lange gedauert, bis es die Gestalt annahm, die es jetzt in meinem Text hat. Bei Gorkij geht es zunächst um das Erdichten von Dingen und Ereignissen draußen in der Welt, oder, wenn Klim Samgin vom Erdichten seiner selbst spricht, um Episoden der äußeren Biographie. Und an dem Roman ist ein bißchen enttäuschend, daß Gorkij einem das Thema gleichsam vor die Füße wirft, ohne es dann wirklich zu entwickeln. Obwohl sich gerade die Geschichte mit dem Eisloch dafür ausgezeichnet eignet. Es gibt nämlich einen Augenblick, wie Gorkij sagt, wo Klim es genießt, seinen Feind, der sich sonst so überlegen gebärdet, in dieser
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