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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Sie kommt aus Tirol und spricht fünf Sprachen. Oder wie viele sind es?»
    «Sechs», sagte die Frau und gab Perlmann ihre feiste Hand.
    Der Kontrast zwischen Namen und Aussehen war so groß, daß er am liebsten laut gelacht hätte. Sie war eine füllige Matrone in Kniestrümpfen und Sandalen, und auf der platten Nase saß eine Hornbrille mit Gläsern so dick wie Lupen.
    «Wir können deutsch sprechen», sagte sie, als Perlmann einen Fehler nach dem anderen machte.
    Nach dieser Bemerkung war er wie betäubt, und später erinnerte er sich nur noch daran, daß er auf die Wand mit den vielen Urlaubspostkarten gestarrt hatte, die genauso aussah wie die Wand in Frau Hartwigs Büro.
    Ja, sagte er nachher in Angelinis Büro, die Arbeit in der Gruppe sei ein großer Erfolg gewesen. Wegen der Veröffentlichung werde er sich bald melden.
    «Wissen Sie», sagte Angelini beim Abschied,«ich kann es immer noch nicht fassen, daß Sie das alles aufgeben wollen. Na ja, Sie können es sich ja noch eine Weile überlegen, wo Sie jetzt mehr wissen. Und sagen Sie Carla draußen, welche Auslagen Sie hatten. Sie schreibt Ihnen einen Scheck aus. Es war ja gewissermaßen ein Einstellungsgespräch! »
    Die Sekretärin telefonierte. Perlmann nickte ihr zu und ging hinaus. Auf dem Weg zum Hotel rempelte er aus Versehen zweimal jemanden an. Der Mann am Empfang, der ihm den Umschlag mit Leskovs Text brachte, deutete auf die Adresse.
    «St. Petersburg. Kommt so etwas wirklich an? Ich meine: Funktioniert die Post nach Rußland tatsächlich? Bei dem Chaos dort?»
    Während Perlmann im Zug nach Turin vor sich hindöste, verfolgte ihn diese Frage wie ein hartnäckiges Echo. Den Umschlag hielt er die ganze Fahrt über so fest, daß nachher Schweißspuren darauf waren. Zwischendurch hörte er immer wieder Signora Medicis Tiroler Akzent, als sie plötzlich Deutsch gesprochen hatte.
    Am Abfertigungsschalter des Flughafens tat er, als könne er kein Wort Italienisch. Er kaufte zwei deutsche Zeitungen, obwohl ihn die italienischen Schlagzeilen mehr interessierten. Deutsch, das war die Sprache, die er konnte. Die einzige. Sich etwas anderes einzubilden war eitler Schwachsinn.
    Als die Maschine aufstieg, sah er das Gelände der Fiat-Werke. Die Leute von Fiat. Santini. Er schloß die Augen. Beim Fliegen, das hatte er oft erlebt, formten sich Gedanken, die man nachher beim Betreten des Flughafens vergaß, als seien sie nie gewesen, so daß für immer unklar blieb, ob es wirklich Gedanken gewesen waren. Einen Standpunkt auβerhalb seiner selbst finden, um von da aus innerhalb seiner selbst in größerer Freiheit zu leben. Es könnte ein Ziel sein, dachte er, ein Ideal. Vielleicht war es aber auch nur ein Hirngespinst, der Ausdruck seiner Müdigkeit. Er griff zu den beiden Zeitungen und las sie von der ersten bis zur letzten Zeile. Jeden Artikel, den er gelesen hatte, vergaß er sofort wieder. So brauchte er nicht nachzudenken, weder über das, was gewesen war, noch über das, was kommen würde.
    Ein einziges Mal unterbrach er die Lektüre und sah auf die verschneiten Berge hinunter. Der Standpunkt der Ewigkeit. Wenn man alles, was man tat, von diesem Standpunkt aus betrachtete: Würde das nicht bedeuten, daß man die Gegenwart vollständig verlöre – so vollständig, daß man sie nicht einmal mehr vermißte? War es, um es so auszudrücken, nicht eine Voraussetzung für das Erleben von Gegenwart, daß die Maschine irgendwann wieder unter die Wolkendecke sank und den Boden berührte?

58
     
    In Frankfurt regnete es in Strömen, und der Wind peitschte das Wasser so heftig gegen das Flugzeug, daß Perlmann hinter dem Fenster unwillkürlich zurückzuckte. Leskovs Text hatte die ganze Zeit im Netz an der Rückseite des Sitzes vor ihm gesteckt. In einem solchen Netz, würde Leskov denken, hatte er den Text vergessen. Beim Hinausgehen klemmte Perlmann den Umschlag unter den linken Arm und hielt ihn zusätzlich mit der rechten Hand fest.
    Seine Rechnung ging auf. Am Schalter, wo er nach seinem Koffer fragen mußte, lag ein Stapel Aufkleber der Lufthansa. Während der Angestellte den Koffer holte, ließ Perlmann drei davon in der Tasche verschwinden. In der Nähe des Postschalters setzte er sich, machte den Umschlag auf und klebte eines der Etiketts auf die Plastikhülle. Die beiden anderen Aufkleber brachte er außen auf dem Umschlag an, einen links oben, den anderen rechts unten. Mit gestreckten Armen hielt er den Umschlag von sich weg: Es sah gut aus,

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