Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
geschäftsmäßig. Die Privatadresse. Eine Adresse, die hier auβer mir niemand kennen kann. Perlmann spürte, wie das ganze Räderwerk der quälenden Überlegungen sich in Bewegung setzen wollte. Er preßte einen Moment die Finger gegen die Stirn, stand auf und ging zum Schalter.
Als der Postbeamte die Marken und das Etikett für Eilbotenpost auf den Umschlag klebte, fragte ihn Perlmann, wie lange die Sendung seiner Ansicht nach brauche. Der Beamte zuckte mit den Schultern.
«Drei Tage, eine Woche. Keine Ahnung.»
Wieso es denn eine ganze Woche dauern sollte, fragte Perlmann gereizt. Der Mann warf den Umschlag in einen Korb, zählte das Geld und sah Perlmann dann ein, zwei Sekunden wortlos an.
«Wie ich schon sagte: keine Ahnung.»
Warum machen Sie mir dann Angst! schrie ihn Perlmann innerlich an. Laut sagte er:
«Entschuldigung. Es ist... es hängt so vieles davon ab. Wissen Sie vielleicht... ich meine, können Sie einschätzen, wie groß die Gefahr ist, daß die Sendung verlorengeht?»
Der Ausdruck, der jetzt auf dem Gesicht des Beamten erschien, erinnerte Perlmann an den Pizzabäcker in Santa Margherita, den er nach dem Regen beim Tunnel gefragt hatte.
«Bei uns geht nichts verloren. Was mit der russischen Post ist – keine Ahnung. »
Langsam, als müsse noch eine innere Sperre gelöst werden, ging Perlmann auf den Ausgang zu. Er vermied es, zu dem Gestell mit den Büchern hinüberzusehen, wo ihm vor bald drei Wochen der Band von Nikolaj Leskov in die Augen gesprungen war. Genau in dem Augenblick, wo er die Lichtschranke durchschritt und die Schiebetür zur Seite glitt, fiel es ihm ein. Eine Kopie. Ich muβ den Text zur Sicherheit kopieren. Den Weg zurück zum Postschalter rannte er fast, und einmal kippte ihm der Koffer, der auf Rädern lief, um. Es gab jetzt eine Schlange. Perlmann stellte sich auf die Zehenspitzen: Sein Umschlag war von anderen zugedeckt, aber der Korb mit dem blauen Etikett war noch da.
«Als ob wir nichts anderes zu tun hätten», murmelte der Beamte, als er den Umschlag nachher heraussuchte.
Wo in diesem Gebäude stand ein Kopiergerät? Es war draußen schon dunkel, als man ihn in einem ganz anderen Gebäudeteil schließlich in den hinteren Raum eines Zeitungsgeschäfts ließ. Der halb geschlossene Reißverschluß der Plastikhülle ließ sich nur durch ein gewaltsames Ziehen ganz öffnen. Jetzt waren sechs Zähnchen defekt, und ans Zuziehen war nicht mehr zu denken. Nach fünfundsechzig Seiten war kein Papier mehr in der Maschine, und Perlmann mußte eine Viertelstunde warten, bis die Bedienung sich freimachen und Papier nachfüllen konnte. Zwei Kopien fielen auf den staubigen Boden. Als er sie mit dem Taschentuch reinigte, hatte er das Gefühl, daß es mit Leskovs Text nie, niemals zu Ende sein würde, und sein Atem ging schwer. Das Metall der Klammern am Umschlag war vom vielen Biegen viel zu weich geworden, fand er. Hoffentlich brach es unterwegs nicht.
Beim Hinausgehen schob er der verdatterten Bedienung einen Fünfzig-Mark-Schein hin und ging dann den langen Weg zurück zur Post. Den Beamten, der wortlos vor sich hinsah, nachdem er ihn erkannt hatte, fragte er, ob es ratsam sei, die Sendung einzuschreiben, oder ob das die Sache womöglich verzögere.
«Was jetzt?»war die einzige Reaktion, die er bekam.
Dann ist er gerade nicht zu Hause, und sie nehmen den Umschlag wieder mit. «Kein Einschreiben», sagte er.
Das Taxi kam im Stadtverkehr nur langsam voran. Perlmann hatte die Augen geschlossen und versuchte, mit Hilfe der Erschöpfung alle Gedanken fernzuhalten. Die eingerollte Kopie in den Händen fing an zu kleben. Sie nützt doch überhaupt nichts. Ich könnte sie ihm niemals geben, ohne mich zu verraten. Er gab auf und hatte in diesem Moment den Eindruck, daß dieses Aufgeben restlos alles einschloß, was er hatte, und daß es ein so vollständiges Aufgeben war, wie er es noch nie erfahren hatte. Während eine Regenwand über das Taxi schwappte, sah er, wie die schwarzen Linien des Filzstifts zerliefen und die Adresse auf dem Umschlag zur Unleserlichkeit verschwamm. Als das Taxi abgefahren war und er nach dem Haustürschlüssel suchte, tropfte es, von ihm unbemerkt, aus der Dachrinne auf Leskovs Text.
III
Die Nachricht
59
In der ersten Nacht bekam Perlmann einen Herzanfall und wurde mit Blaulicht in die Klinik gefahren. Der diensthabende Arzt sah jedoch keinen Anlaß, ihn dazubehalten; alle Werte waren normal. Er diagnostizierte einen Zustand
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