Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
ganze Stunde. Perlmann griff zu Leskovs Text. Er ging den Satz über das sprachliche Erschaffen der eigenen Vergangenheit noch einmal durch. Es stimmte, was er am Morgen als Übersetzung aufgeschrieben hatte. Doch nun wurde der Text sehr schwierig. Leskov führte den Begriff einer erinnerten Szene - vspomniščajasja scena - ein und schien dann den Gedanken zu entwickeln, daß wir in solche Szenen notwendigerweise ein Selbstbild – samopredstavlenie – hineinprojizierten. Perlmann mußte jedes zweite Wort nachschlagen, und das Typoskript wurde durch die hineingekritzelten Übersetzungen von Mal zu Mal unübersichtlicher. Es wurde ihm immer klarer: Er mußte ein Vokabelheft kaufen, in das er all die neuen Wörter eintragen konnte. Auf diese Weise würde ein Glossar des akademischen Russisch entstehen, eines Bereichs der Sprache also, der in Übungsbüchern kaum gestreift wurde. Plötzlich ging es ihm gut: Er hatte ein Vorhaben, das er in seinem neuen, ruhigen Zimmer verfolgen konnte. Es war ein richtiges Arbeitsvorhaben. Er war endlich wieder ein Arbeitender. Als er entlang dem Hafen in die Stadt ging, um ein Schreibwarengeschäft zu suchen, waren seine Schritte sicher und selbstbewußt.
Es war sein erster Gang in den Ort hinein, und lange sah es so aus, als gäbe es hier nicht ein einziges Geschäft mit Schreibsachen. Schließlich fand er in einer düsteren Nebenstraße einen schmuddeligen kleinen Laden, in dem man außer Schreibwaren auch Illustrierte und Groschenromane kaufen konnte sowie billiges Spielzeug und Bonbons. Noch verärgert über das lange Suchenmüssen, jetzt aber auch erleichtert, drückte er mit Schwung auf die Klinke und stieß mit Schulter und Kopf gegen die verschlossene Tür. Immer noch Siesta, obwohl es bereits kurz vor vier war. Er blieb vor dem Schaufenster stehen und rieb sich die schmerzende Stirn. Nach einer Weile wurde sein Blick gefangengenommen von einem großen Buch, das, umgeben von Papierschlangen und Lametta, hinter der schmutzigen Scheibe aufgebaut war wie ein heiliges Buch in einem Schrein. Es war eine Chronik des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Umschlag war vorne in vier Felder unterteilt, in denen weltbekannte Fotografien zu sehen waren, Ikonen dieses Jahrhunderts: Marilyn Monroe, wie sie, über dem Schacht der Subway stehend, den aufgeblähten Rock festhielt; Elvis Presley mit hellblauem Glitzeranzug, im Spielen weit nach hinten gebeugt; Neil Armstrongs erster Schritt auf dem Mond; Jacqueline Kennedy, die sich in Dallas im offenen Auto über den erschossenen Präsidenten beugte. Perlmann spürte, wie ihn die Bilder in ihren Bann schlugen, als sehe er sie zum erstenmal. Der Gedanke, über die Themen dieser Bilder etwas nachlesen zu können, jetzt gleich, elektrisierte ihn, und plötzlich schien ihm nichts aufregender, nichts wichtiger, als sich das Jahrhundert, in dem er lebte, aus der Perspektive solcher Bilder zu erschließen. Aufgeregt riß er die Pakkung Zigaretten auf, die er an der Ecke gekauft hatte. Nein, es war anders: Es ging nicht darum, sich ein Jahrhundert zu erschließen wie ein Historiker. Was er wollte, war, sich sein eigenes Leben neu anzueignen, indem er sich vergegenwärtigte, was währenddessen draußen in der Welt geschehen war. Diese Idee kam ihm hier, in dieser düsteren, menschenleeren Gasse, wo es ein bißchen nach Fisch und vermodertem Gemüse roch, zum erstenmal. Er war sich unsicher, ob er ganz verstand, was er da dachte, aber seine Ungeduld wuchs von Moment zu Moment, er wollte jetzt gleich damit beginnen, was immer es sein mochte.
Die Besitzerin des Ladens, die ihm schließlich aufschloß, eine dicke Frau mit viel zu vielen Ringen an den feisten Händen, war zuerst ungehalten über die Ungeduld, die Perlmann nicht zu verbergen vermochte. Doch als er nach der Chronik verlangte, wich ihr mürrisches Gebaren einer beflissenen Freundlichkeit. Sie war verdattert, als habe sie nie damit gerechnet, jemand könne dieses große, unhandliche Buch, das Prunkstück ihrer Auslage, tatsächlich kaufen wollen; schon gar nicht jemand mit einem unverkennbar ausländischen Akzent und dazu noch in der toten Zeit der Mittagspause. Sie holte den schweren Band aus dem Schaufenster, staubte ihn unter der offenen Tür ab und reichte ihn Perlmann mit einer theatralischen Geste: Ecco! Für das Vokabelheft wollte sie nichts nehmen, es sei eine Zugabe. Das Bündel Geldscheine steckte sie in die Tasche ihrer Schürze. Sie schüttelte noch immer erstaunt den Kopf, als sie ihm
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