Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
unter der Tür nachblickte.
Zwei Straßen weiter sah Perlmann ein unscheinbares Schild TRATTORIA. Er teilte den Vorhang aus lauter Schnüren mit farbigen Glasperlen, ging durch einen langen, düsteren Gang und befand sich plötzlich in einem hellen, mit Glas überdachten Innenhof, in dem Eßtische mit rot-weiß karierten Tischtüchern standen. Der Raum war leer, und Perlmann mußte zweimal rufen, bevor der Wirt mit einer Schürze um den Bauch erschien. Sie hätten selbst gerade erst gegessen, sagte er leutselig, Perlmann könne noch eine Minestrone und einen Teller Pasta bekommen. Als er dann das Essen brachte, erschienen auch die Frau und die Tochter. Perlmann brannte darauf, in der Chronik zu lesen, aber die Familie war neugierig, etwas über den Mann mit dem großen Buch zu erfahren, der offenbar quer zum gewohnten Rhythmus lebte. Als Gegenleistung für die Bewirtung zu ungewohnter Zeit erzählte ihnen Perlmann von der Forschungsgruppe. Sprache erforschen, das fanden sie interessant, er mußte immer weiter erzählen, vor allem Sandra, die dreizehnjährige Tochter mit dem langen, pechschwarzen Zopf, wollte immer noch mehr wissen, und die Eltern waren sichtlich stolz, eine derart wißbegierige Tochter zu haben. Es ging auch bei diesen schwierigen Dingen erstaunlich gut mit seinem Italienisch, Perlmann freute sich über jede geglückte Wendung, die er sich gar nicht zugetraut hätte, und diese Freude über sprachliches Gelingen, zusammen mit dem Wunsch, Sandra nicht zu enttäuschen, ließen ihn ein positives, beinahe enthusiastisches Bild von dem Unternehmen drüben im Hotel zeichnen, das in einem grotesken Mißverhältnis zu seiner inneren Not stand. Als sich die Wirtsleute schließlich zurückzogen, um ihn lesen zu lassen, war er in ihren Augen ein beneidenswerter Mann, der das Glück hatte, genau das tun zu können, was ihn am meisten interessierte, der seltene Fall eines Mannes also, der in vollständiger Übereinstimmung mit sich selbst lebte.
Perlmann schlug das Jahr seines Abiturs auf. Die erste kontrollierte Kernfusion. Ein Comeback für de Gaulle. Boris Pasternak wurde gezwungen, den Nobelpreis zurückzugeben. In Italien hatten Wahlen stattgefunden. Papst Pius XII war gestorben. Der Torre Velasca in Mailand war fertiggestellt worden. Der Bischof von Prato, der ein Ehepaar als pubblici concubini und pubblici peccatori beschimpft hatte, weil sie die kirchliche Trauung verweigert hatten, war vor Gericht der Verleumdung angeklagt, zu einer Geldstrafe verurteilt und später, nach einem Aufstand der Kirche, wegen insindacabilità dell’ atto wieder freigesprochen worden.
Perlmann las mit brennenden Augen. Die Texte waren nicht anspruchsvoll, und sein Italienisch reichte im großen ganzen aus. Das Ganze war ein bißchen reißerisch aufgemacht und roch nach Boulevardpresse, aber das störte ihn nicht, eigentlich genoß er es sogar, und der Umstand, daß die Auswahl der Ereignisse aus der italienischen Perspektive heraus erfolgt war, gab der Sache einen exotischen Reiz. Er war grenzenlos erstaunt über seine Faszination, wenn er beispielsweise las, daß der Ungarn-Aufstand, der die italienischen Kommunisten zwei Jahre zuvor in große Verlegenheit gebracht hatte, das Abschneiden der Partei bei den Wahlen in keiner Weise beeinflußt hatte. Er verstand nicht, warum er Sandra einen Espresso nach dem anderen bringen ließ und dabei rauchte wie ein Schlot. Aber er genoß es, von sich selbst überrascht zu werden, aus heiterem Himmel eine Entdeckung über sich zu machen, die, das spürte er verschwommen, der Anfang von etwas sein konnte.
Der Himmel über dem Glasdach war fast schon schwarz, und die Schiffslaternen an den Wänden brannten schon eine ganze Weile, als Perlmann aufbrach. Aus einer momentanen Eingebung heraus bat er den Wirt, die Chronik für ihn aufzubewahren; er werde wiederkommen, um weiterzulesen. Während er durch die stillen Gassen zum Hafen ging, hatte er das Gefühl, einen Ort der Zuflucht gefunden zu haben, an den er sich zurückziehen konnte, wenn die Welt des Hotels, die Welt der Gruppe, ihn zu erdrücken drohte. Und er empfand eine diebische Freude bei dem Gedanken, daß keiner der anderen von diesem Unterschlupf jemals etwas erfahren würde. Doch als er dann an der Hafenmole entlangging und in die Uferstraße einbog, an der das Hotel lag, versickerten diese Empfindungen rasch, obgleich er mehrmals stehenblieb und mit geschlossenen Augen versuchte, sie daran zu hindern. Und als er vor der
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