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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Tischs, so daß er jetzt die Wand vor sich hatte. Mit größter Aufmerksamkeit las er jeden einzelnen Namen auf Kennedys Kabinettsliste, und dann ging es weiter ins nächste Jahr: Gagarin im Weltraum; kubanische Invasion in der Schweinebucht; Mauerbau in Berlin.
    Sein Leben entlang der Weltgeschichte noch einmal aufrollen: Es war, dachte er, wie ein Aufwachen. Mit jeder Seite wuchs das Bedürfnis, sich zu vergewissern, was in all den Jahren in der Welt geschehen war, in denen er vor allem mit sich selbst beschäftigt gewesen war – damit, durch Arbeit seine Angst vor dem Mißlingen des Lebens zu bannen. Mitten im Gerede und Gelächter von den anderen Tischen kam es ihm vor, als sei er als Gefangener dieser Anstrengung sozusagen abwesend gewesen und kehre erst jetzt zurück. Es war wie ein Eintritt in die wirkliche Welt. Es hätte eine befreiende, eine beglückende Erfahrung sein können, wäre da nicht, keine zwei Kilometer entfernt, das Hotel mit der Freitreppe, den gemalten Fensterfassungen und den schräg gewachsenen Pinien gewesen.
    Erschrocken sah Perlmann auf die Uhr: Zehn nach neun. Mit soviel Verspätung konnte er unmöglich zum Abendessen erscheinen. Trotzdem drängte er jetzt darauf zu zahlen und ging mit hastigen Schritten zum Hotel, das er zum erstenmal durch den Hintereingang betrat. Er hatte gerade leise die Tür geschlossen, da kam Giovanni, einen großen Karton unter dem Arm, um die Ecke. «Buona sera», sagte er leutselig und deutete eine Verbeugung an, bevor er sich in Bewegung setzte. Heute hatte er sein Gesicht gut in der Gewalt, es war keine Spur vom gestrigen Grinsen darin zu entdecken. Aber Perlmann kam es vor, als lache er gewissermaßen hinter seinem Gesicht das Lachen eines Dienstboten, der seinen Herrn bei einer unrühmlichen Tat ertappt hat.
    Perlmann hatte sich darauf gefreut, oben in den schummrig beleuchteten Flur einzubiegen und in seinem Mittelteil, unter der Lampe ohne Licht, tastend nach dem Schlüsselloch zu suchen. Und so war er unangenehm überrascht, als alle Lampen mit ungewohnter Helligkeit brannten. Den Schlüssel in der Hand, ging er im Zimmer eine Weile auf und ab, bevor er sich dann zum Geräteschrank am Ende des Korridors schlich und eine Leiter herausholte. Das Taschentuch um die Finger gewickelt, schraubte er alle neuen Birnen halb heraus, so daß wieder genau dieselbe Beleuchtung herrschte wie vorher.
    Morgen würde es mehr als heute um Millars ersten Text gehen. Widerwillig bückte er sich zum runden Tisch hinunter und blätterte ein bißchen. Dann ging er ins Bad und nahm eine halbe Schlaftablette aus der Packung. Er brach sie entzwei und spülte nach einigem Zögern den größer geratenen Teil hinunter.
    Damals, als er im Konservatorium aufgehört hatte, war doch auch die Sache mit den Notstandsgesetzen gewesen, dachte er, als er im Dunkeln lag und dem immer noch regen Verkehr lauschte. Er hatte die Demonstrationen von der anderen Straßenseite aus beobachtet. Er spürte, daß er hätte hinübergehen sollen. Aber da waren all diese Menschen, und die lauten Megaphone, und die rhythmischen Bewegungen der Menge, die einem das Gefühl gaben, den eigenen Willen zu verlieren. Und so war es bis heute nie zu einem politischen Engagement gekommen, wenngleich er auf der inneren Bühne stets für sehr klare und nicht selten radikale Positionen focht. Daß er im spanischen Anarcho-Syndikalismus eine Weile lang fast so gut zu Hause gewesen war wie ein Historiker, hatte nicht einmal Agnes gewußt.
    In dieser Nacht erwachte er dreimal, und trotzdem vermochte er sich der bleiernen Macht dieses verfluchten Worts nicht zu entwinden. Es war das Wort Meisterklasse, ein Wort, vor dem beide Eltern in Ehrfurcht zu erstarren pflegten, als sei es einer der Namen Gottes. Im Konservatorium in die Meisterklasse aufgenommen zu werden, die von einem großen Namen geleitet wurde: Das war in ihren Augen das Höchste, was es gab, und sie wünschten sich für ihren einzigen Sohn nichts sehnlicher als diese Weihe. Im Traum, der über die Unterbrechungen des Erwachens hinweg an ihm haftenblieb, sah Perlmann seine Eltern nicht, und er hörte sie auch das Wort nicht aussprechen. Vielmehr war es so, daß die Eltern da waren, und auch das Wort, und das Wort war in riesigen Lettern der Beklommenheit in ihr andachtsvolles Schweigen hineingeschnitten.
    Erst als er am Morgen schon minutenlang unter der Dusche gestanden hatte, gelang ihm eine Empfindung des Hohns, welche die Macht des Worts schließlich zu

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