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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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brechen vermochte.

7
     
    Die umständliche Frage, die Perlmann in der Sitzung stellte, nachdem er den auffordernden Blicken Millars nicht mehr länger hatte trotzen können, war so haarsträubend naiv, daß Ruge, von Levetzov und auch Evelyn Mistral den Kopf ruckartig zu ihm herumdrehten. Millar blinzelte wie jemand, der glaubt, sich verhört zu haben, und suchte dann Zeit zu gewinnen, indem er die Frage mit langsamen, malenden Bewegungen aufschrieb. Dann warf er – wie einer, der einen wichtigen Vertragstext noch ein letztes Mal mit den Augen streift, bevor er unterschreibt – einen langen Blick auf das Geschriebene, bevor er Perlmann anblickte. Es war das erste Mal, daß Perlmann ihn unsicher sah, unsicher nicht in der Sache, sondern im Verhalten einer Frage gegenüber, die einerseits von einem Mann wie Perlmann kam, andererseits allem Anschein nach von geradezu törichter Einfalt war. Er entschied sich für einen betont bescheidenen, betont nachdenklichen Ton und setzte Perlmann nochmals auseinander, was jedem, der seinen Text aufmerksam gelesen hatte, ohnehin klar sein mußte. Es war ihm sichtlich unwohl dabei, er konnte im Grunde nicht glauben, daß Perlmann das wirklich gefragt hatte, und er befürchtete, ihn zu beleidigen, indem er die Frage beim Wort nahm. Zweimal schien er fertig zu sein, sah Perlmann prüfend an, und als dieser hölzern nickte und einfach «Thank you» sagte, fügte er seiner Erklärung noch etwas hinzu.
    Die Tablette, dachte Perlmann, ich hätte nur die kleinere Ecke nehmen dürfen. Er stützte den Kopf in die Hand, um sich unauffällig die Schläfen massieren zu können. Vielleicht half das gegen die pochende Schwere, die wie ein Stahlring über den Augen lag. Als er die Hand wegnahm, fing er einen Blick von Evelyn Mistral auf, die mit immer schneller werdenden Sätzen gegen das skeptische Gesicht von Millar ankämpfte. Er nickte, ohne zu wissen, worum es ging. Als Millar diese Zustimmung bemerkte, sah er aus wie einer, der nun endgültig verwirrt ist. Offenbar paßte Evelyn Mistrals Gedankengang überhaupt nicht zu der Interpretation, die er sich inzwischen für Perlmanns rätselhaft naive Frage zurechtgelegt hatte.
    Perlmann goß sich Kaffee ein, und als er in der Jackentasche nach den Streichhölzern griff, spürte er die Packung der Kopfschmerztabletten. Er ließ die Hand in der Tasche und klaubte zwei Tabletten heraus, die er mit langsamen, unauffälligen Bewegungen zum Mund führte und hinunterspülte. Als sei der Kopf allein schon durch das Schlucken wieder klargeworden, konzentrierte er sich auf die Formeln in Millars Text. Mit einem Ruck, den er im letzten Moment noch etwas abfedern konnte, setzte er sich kerzengerade hin: In einer der Formeln fehlte eine Klammer. Seine Erregung mühsam beherrschend goß er Kaffee nach. Nur jetzt keinen Fehler machen. Methodisch und mit schmerzender Konzentration suchte er den gesamten formalen Teil ab. Er traute seinen Augen kaum: Kurz vor dem Ende fehlte ein Quantor, was nicht nur die Ableitung falsch machte, sondern die Formel in sich unsinnig werden ließ. Dreimal ging er die Formel durch, Zeichen für Zeichen, und bei jedem Mal wurde das Herzklopfen noch heftiger. Die Kopfschmerzen waren verflogen, und es war, als dringe seine ungeduldige Wachheit aus dem Inneren direkt auf das Papier hinaus. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher. Alles kam jetzt auf die Präsentation an. Mit lauernder Langsamkeit, die er auskostete wie schon lange nichts mehr, zündete er eine Zigarette an, schob den Stuhl zurück und setzte sich, den Text in der anderen Hand, mit übergeschlagenen Beinen hin wie in einem Straßencafe. Er sah Millar in der ersten Reihe des Konferenzraums von damals sitzen und neben ihm Sheila im kurzen Rock.
    «I see», sagte Laura Sand gerade und lehnte sich zurück. Millar nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Es war das erste Mal, daß Perlmann sein Gesicht ohne Brille sah. Es war ein überraschend verletzliches Gesicht mit Augen, die einen jungenhaften, fast kindlichen Ausdruck hatten, und in der Spanne dieses kurzen Augenblicks, bevor Millar die Brille wieder aufsetzte, wollte Perlmann mit seinem geplanten Angriff nichts mehr zu tun haben. Doch in einem anderen Teil seiner selbst war dieser Angriff bereits abgefeuert und folgte nun unaufhaltsam seiner ballistischen Kurve, und zudem hatte sich jetzt auch das Blitzen von Millars Brille wieder über dem Gesicht geschlossen, das vorhin so schutzlos ausgesehen hatte.
    «Sagen

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