Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Das ist es, was mir immer gefehlt hat. Ich will die Dinge nur im Umriß wissen und mag es, wenn die Linien ein bißchen verschwimmen. Das ist der Grund, warum mir die Wissenschaft eigentlich von Anfang an fremd war.
Sie würde gern die Zugabe von vorhin noch einmal hören, sagte Laura Sand. «I like it. It’s so... ingenuous.»
Während Millar spielte, schloß sie die Augen. Ihr Gesicht war schön, das hatte Perlmann bisher nicht bemerkt. Bisher hatte ihr zorniger Blick über den spöttischen Lippen alles dominiert. Er hatte sie als intelligent und interessant gesehen, als erfüllt von einer durchdringenden Wachheit, aber nicht als schön. Jetzt gaben die langen Wimpern und die fast geraden Augenbrauen dem weißen Gesicht, dem die afrikanische Sonne offenbar überhaupt nichts hatte anhaben können, eine marmorne Ruhe. Sie wirkte erschöpft.
Perlmann hielt Hannas Gesicht daneben. Er wußte nicht, ob es ihm gefiel oder ihn störte, daß diese Frau hier das Stück mit einem Wort beschrieben hatte, das vielleicht näher als jedes andere englische Wort an einfältig herankam. Wurde dadurch die vergangene Intimität mit Hanna, wie sie in dem kleinen Spiel der Namensgebung zum Ausdruck gekommen war, verletzt?
Laura Sand mußte ihm, als sie einen Moment die Augen öffnete, angesehen haben, daß er sich mit ihr beschäftigte, denn kurze Zeit danach klappte sie ein Auge auf, und diese spöttische Einäugigkeit war wie das Herausstrecken der Zunge.
Die Zugabe sei ein kleines Präludium in g-Moll gewesen, die Nummer 902 aus dem Werkverzeichnis, gab Millar Auskunft, als von Levetzov ihn fragte.
Wie bei der Entdeckung gestern in der Sitzung setzte sich Perlmann unwillkürlich ganz gerade hin. Sein Herz klopfte wie wild. Hatte er sich geirrt, weil er die Dinge bei Bach einfach nicht auseinanderhalten konnte? War es gar nicht das Geburtstagsstück? Während Millar im Ton des Kenners über die wenig bekannte Klaviermusik Bachs sprach, ließ Perlmann das Stück im Inneren noch einmal erklingen. Es war das Stück, er war sich ganz sicher. Hatte er also ein falsches Datum im Kopf? Hatte Hanna am 2. September Geburtstag?
Nach einigen hastigen Zügen an der Zigarette erinnerte er sich: Einmal waren sie an ihrem Geburtstag in den Circus gegangen. Hanna war wütend gewesen, daß die Trapeznummer ohne Netz stattfand, sie hatte die Augen zugemacht und nachher trotzdem gezittert. Wenige Tage später war der jüngste der Artisten abgestürzt und tot im Sägemehl der Arena liegengeblieben. Und der Circus, der war immer pünktlich zu Herbstbeginn nach Hamburg gekommen, nicht schon Anfang September. Millar irrt sich. Brian Millar, der Star, der alles weiß, hat einen Fehler gemacht. Und dazu noch bei etwas, was er für eine Trouvaille ausgegeben hat. Aber Vorsicht-damit herauszuplatzen, bevor er es überprüft hatte, war zu riskant. Immerhin waren dreißig Jahre vergangen, und das Gedächtnis konnte einem noch ganz andere Streiche spielen. Natürlich war es ein lächerlich unbedeutender Fehler, es war grotesk, daraus etwas zu machen. Aber Perlmann spürte es mit einer beinahe körperlichen Gewißheit: Bei seinem Steckenpferd diesen winzigen Fehler, dieses Nichts von einem Fehler zugeben zu müssen, würde Millar mitten in seiner Eitelkeit treffen, es würde ihn sogar noch mehr treffen, als wenn er einen Fehler in der Wissenschaft gemacht hätte. Und dieses Mal gab es keine Jenny, auf die er den Fehler abwälzen konnte.
Zwei Fehler in den Formeln, und jetzt das. Und immer war es dieser Philipp Perlmann, der ihm am Zeug flickte. Er würde kochen, der Mann, der jetzt mit seinen amerikanischen Stiefeletten wippte, während er Evelyn Mistral, die ihm mit ärgerlich andächtigem Gesicht zuhörte, den Unterschied zwischen Klavier- und Cembalomusik erklärte. Einen Irrtum kann ich mir nicht leisten. Ich muß Hanna anrufen. Noch heute nacht.
Glücklicherweise wurden nun die Gäste von außerhalb – einige von ihnen angetrunken – laut, so daß es bald zum Aufbruch kam. Angelini, der mit Silvestri noch in die Stadt wollte, verabschiedete sich. Er habe sich sehr gefreut, alle einmal kennenzulernen. An Leskovs Absage habe sich wohl nichts mehr geändert? Schade. Und daß Perlmanns Sitzung am Montag des Empfangs stattfinde: Das stehe fest? Da wolle er nämlich unbedingt dabei sein.
«Sie sagen mir Bescheid, wenn der Termin sich ändert?»
Perlmann nickte stumm.
«Promesso?»
Wieder nickte Perlmann.
Angelini legte Silvestri den Arm um die
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