Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
lächelte Millar, und als er das Nicken der anderen sah, setzte er sich wieder an den Flügel. Einen Moment nahm er die Brille ab und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.«Was jetzt kommt», sagte er dann mit selbstgefälliger Nachdenklichkeit,«ist ein kostbares kleines Stück, das kaum jemand spielt. Zum Beispiel gibt es keine Platte, auf der es vorkäme. Eine kleine Trouvaille von mir. »
Nach wenigen Takten schon stellte sich bei Perlmann eine Empfindung der Vertrautheit ein. Immer deutlicher hatte er den Eindruck, dieses Stück zu kennen, oder besser, es einmal, vor langer Zeit, gut gekannt zu haben. Er schloß die Augen und konzentrierte sich in die Vergangenheit hinein, lange Zeit vergeblich, bis es dann plötzlich da war wie etwas Selbstverständliches. Hannas Stück, natürlich, es ist Hannas Stück, das wir getauft haben, eines ihrer Lieblingsstücke.
Er sah sie sofort vor sich, Johanna Liebig mit der dunklen Strähne im feinen, goldblonden Haar, das ein ungewöhnlich flaches Gesicht mit einer sehr geraden Nase und einem bronzenen Teint umrahmte. Man konnte es ein schönes Gesicht nennen, obwohl man sich hüten mußte, es ihr gegenüber zu tun. Er hatte dieses Gesicht stets ein bißchen unnahbar gefunden und hatte sich vor dem direkten Blick aus den hellbraunen Augen gefürchtet, den sie effektvoll einzusetzen verstand. Diese Unnahbarkeit war der Grund, warum es mit ihnen beiden nie etwas geworden war. Er hatte sich einfach nicht getraut, und plötzlich hatte er dann gemerkt, daß es zu spät war. Er hatte damals nicht gewußt, daß es für so etwas einen Zeitpunkt gab, den man verpassen konnte, und er wußte bis heute nicht, ob sie darauf gewartet hatte. Nach einiger Zeit dann, in der sie sich aus dem Weg gegangen waren, wurden sie gute Kumpel. Sie hörten sich beim Spielen wechselseitig zu und kritisierten sich, und gelegentlich gingen sie zusammen ins Konzert. Sie war begabter als er, doch bei ihr hatte ihm das nichts ausgemacht. Es gab keine Konkurrenz zwischen ihnen, er mochte es im Gegenteil nicht ungern, wenn sie ihm überlegen war und ihn auf spöttische Weise auch ein bißchen bemutterte. Wütend wurde er nur, wenn sie, die alles leichter, spielerischer zu nehmen vermochte, ihm seine Verbissenheit vorwarf. Das machte ihn hilflos, und dann redete er kein Wort mehr, nicht anders als später bei Agnes, wenn sie sturmzulaufen versuchte gegen seine schwerblütige und oft humorlose Art.
«Was mir daran so gefällt», hatte Hanna gesagt, als sie ihm das Stück zum erstenmal vorspielte,«ist seine Einfachheit; fast möchte ich sagen: rührende Einfachheit.»Er hatte sofort verstanden, war aber mit dem Wort nicht zufrieden gewesen. «Einfach ist zu blaß», hatte er nach einer Weile gemeint.«Besser wäre: einfältig; wenn es nicht diesen abwertenden Beigeschmack hätte. »Sie hatten dann lange über das Wort geredet und es gewissermaßen für sich entdeckt. Am Ende war der Beigeschmack weg, und sie fanden es nur noch ein sehr schönes Wort. Als er einen Blick auf die Noten warf und sah, daß es die Nummer 930 des Werkverzeichnisses war, hatte er gelacht.«Wenn man die Zahl so liest, wie die Amerikaner ein Datum schreiben, also mit dem Monat vor dem Tag, so kommt Dein Geburtstag heraus! »Und so war der Name geboren worden: das einfältige GeburtstagsStück.
«Das war natürlich alles Bach», lächelte von Levetzov,«aber ich kann es im Moment nicht einordnen. Bei Mozart kenne ich mich besser aus. »
«Wohingegen ich mich nirgendwo auskenne», sagte Ruge in seiner unnachahmlichen Trockenheit und erntete schallendes Gelächter, in das auch einige der anderen Gäste einstimmten.
«Es waren die zweite und dritte der Englischen Suiten», sagte Millar in seiner erklärenden Admiralsstimme.
«Englisch? Warum englisch?», fragte Laura Sand mit dem mürrischen, gereizten Ausdruck, den sie immer bekam, wenn sie etwas nicht verstand.
Der Titel, erklärte Millar und schlug die Beine übereinander, stamme nicht von Bach selbst. Es gebe eine Abschrift der Partitur von Johann Christian Bach, der in London arbeitete, und darauf stünde, ohne jeden weiteren Kommentar, faites pour les Anglais. Und so habe man sich angewöhnt, von den Englischen Suiten zu reden.
Während Millar sprach und jedes Detail der Geschichte weitschweifig erläuterte, hatte Perlmann plötzlich das Gefühl, eine Entdeckung zu machen: Der Wille, etwas in dieser Weise ganz genau zu wissen:
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