Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Schulter.«Er wird der letzte sein, der vorträgt. Findest du nicht auch, daß er zu bescheiden ist?»
Perlmann wartete Silvestris Reaktion nicht mehr ab.
In seinem Zimmer angekommen, nahm er sich nicht einmal die Zeit, die Jacke auszuziehen, sondern setzte sich gleich aufs Bett und schlug die Nummer der internationalen Auskunft nach. Als er Hanna aus den Augen verloren hatte, war sie unverheiratet gewesen, und später einmal hatte ihm jemand erzählt, sie sei jetzt Klavierlehrerin in Hamburg. Es gab zwei Johanna Liebig in Hamburg. Über den Beruf hatte man bei der hiesigen Auskunft keine Angaben, und er ließ sich beide Nummern geben. Aufgeregt wie vor dem ersten Rendezvous zündete er sich eine Zigarette an.
Die erste Johanna Liebig war eine alte Frau, die aufgebracht war, daß jemand sie so spät in der Nacht noch störte. Perlmann stotterte eine Entschuldigung und legte auf, enttäuscht, aber insgeheim auch froh über den kleinen Aufschub. Bei der zweiten Nummer klingelte es sehr lange. Dann meldete sich Hanna, er erkannte ihre Stimme sofort.
«Philipp! »sagte sie viel schneller als erwartet,«Philipp Perlmann! Mein Gott, wie lange haben wir nichts mehr voneinander gehört! Wo in aller Welt bist du?»
«Hör zu», sagte er,«du erinnerst dich sicher an das kleine Präludium von Bach, dieses wenig bekannte, das du so oft gespielt hast. Du weißt schon, das einfältige Geburtstagsstück.» »
«Ja, natürlich. Was ist damit?»
«Könntest du es mir ganz schnell am Telefon vorspielen?»
« Was – jetzt? Ich habe Gäste. »
«Hanna, bitte, es sind doch nur drei Minuten. Ich muß wissen, ob ich es richtig in Erinnerung habe. Es ist wichtig. »
«Aber warum, um Gottes willen, mußt du das gerade jetzt wissen – mitten in der Nacht, nach... warte mal... nach dreißig Jahren?»
«Bitte, Hanna. Bitte. »
«Wie in alten Zeiten. Also gut», sagte sie, und nach einer Weile, in der er Stimmen hörte, eine zufallende Tür und das laute Geräusch des Hörers, der aufs Klavier gelegt wurde, kam das Stück, das Millar gespielt hatte.
«Und?»fragte Hanna, kaum war der letzte Ton verklungen.
«Ich habe mich nicht geirrt. Und du bist auch ganz sicher, daß dies das Stück ist? Hundertprozentig? Keine Verwechslung möglich?»
«Philipp! Meine Schüler müssen es spielen. Du weißt doch, wie gut es sich eignet. »
«Und dein Geburtstag ist der 30. September? Und nicht der 2.?»
«Immer noch. Im übrigen ist die 902 in G-Dur. »
«Und das Stück ist aus dem Klavierbüchlein für Wilhelm Friedemann Bach?»
«Ja, Philipp», sagte Hanna wie zu einem mühsamen Kind,«und es ist keines der beiden Stücke, bei denen man ein bißchen unsicher ist, ob nicht der Sohn sie – mit Hilfe des Vaters – geschrieben hat. »
«Stimmt es, daß es das Stück nicht auf Platte gibt?»
«Nein, das stimmt nicht. Es gibt eine CD von CBS. Sogar mit Glenn Gould.»
«Hanna, du bist großartig! Aber wie komme ich da jetzt bloß dran», sagte Perlmann vor sich hin.
«Ich kann sie dir leihen, wenn dir das was nützt. »
«Sie kommt zu spät, wenn du sie mir schickst. Ich muß versuchen, sie morgen hier zu bekommen. »
«Wo bist du denn überhaupt?»
«In der Nähe von Genua. »
«Philipp, was zum Teufel ist los? Du klingst so seltsam, so... verbissen. »
«Ich muß jemandem etwas beweisen, und zwar schnell. »
«Hast du was ausgefressen?»
«Nein, nein. »
«Du mußt nur einfach Recht haben?»
«Ganz so ist es nicht; aber so ähnlich. »
«Scheinst dich nicht sehr verändert zu haben.»
«Es ist eine lange Geschichte, Hanna, ich erklär’s dir später mal. »
Für eine Weile schwiegen beide, bis Perlmann mit veränderter Stimme fragte:«Weißt du noch: gläserne Klarheit mit Rändern aus Samt?»
«Natürlich weiß ich das noch. Die anderen haben uns ausgelacht. »
«Ja. Aber ich habe auch später nie eine bessere Formel für Glenn Gould gehört. »
«Ich auch nicht. Spielst du manchmal noch?»
«Nein. »
«Es geht dir nicht gut, nicht wahr?»
«Nicht besonders. »
Sachte, als sei er zerbrechlich, legte Perlmann den Hörer auf die Gabel. So also hatte Hanna ihn in Erinnerung behalten: als einen, der stets Recht haben will. Das tat weh, und er fand es unfair. Und doch gestand er sich nach einer Weile ein, daß es wohl kein Zufall war. Zum Beispiel das Gespräch von eben: Er hatte sich mit keinem Wort nach ihr erkundigt, hatte keine einzige Gegenfrage gestellt. Er hatte sie mit seinem Drang, Millar eins
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