Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
er das schon im Augenblick des Erschreckens, man konnte fast sagen, daß dieses Wissen ein Teil des Erschreckens war und ihm seine besondere Färbung gab. Nur war es so, daß das Wissen keinerlei Macht über die Angst hatte. Und über die Jahre, dachte er, war aus dem Erschrecken über eine vermeintliche Wissenslücke ein Erschrecken über die Machtlosigkeit des Wissens geworden. Das Wissen war wie ein Rad, das sich in überhitztem Tempo drehte, ohne irgend etwas in seiner Seele zu bewegen und ohne ihn gegen die eiserne Logik ihres Erlebens schützen zu können. Perlmann fielen die Sätze der Hoffnungslosigkeit ein, die Jakob von Gunten aufgeschrieben hatte.
Nach den Sitzungen schlief er bis in den Nachmittag hinein und setzte sich dann an Leskovs Text. Er hatte sich mittlerweile den theoretischen Wortschatz, den Leskov entfaltete, auf englisch zurechtgelegt, einiges wiederholte sich, und mit den abstrakteren Passagen ging es ziemlich flott. Schwierig waren immer wieder die Beispiele mit all ihren sinnlichen Details und Nuancen. Auch jetzt noch stand er manchmal davor wie der Ochs vorm Berg, und in einigen Fällen blieb der englische Text, der dann schwarz vor Korrekturen war, hoffnungslos hölzern und ungelenk.
Eine besonders harte Nuß waren die vielen Beispiele, mit denen Leskov den Gedanken illustrierte, daß das erzählerische Erinnern skrupellos war, wenn es darum ging, die moralische Integrität des vergangenen Selbst zu verteidigen. Er zog klinisches Material heran, das von zwei Schülern Lurijas, des berühmten russischen Neuropsychologen, zusammengetragen worden war. Es handelte sich durchgängig um Menschen, die unter einem moralischen Trauma litten. Das Ausmaß des Konfabulierens und Umdeutens der vergangenen Handlungen verschlug einem die Sprache, und auch Leskov selbst war offenbar davon erschlagen, denn er konnte mit den Beispielen kaum aufhören.
Und dann kam ein Textstück, in dem beschrieben wurde, wie einige dieser Menschen, wenn die wahrheitsgemäßen Erinnerungen zu erdrückend waren, um zurechtgebogen werden zu können, eine innere Spaltung vollzogen und das Selbst der Verfehlungen von dem makellosen Selbst, das eine raffinierte Erdichtung war, fernhielten. Perlmann blieb die halbe Nacht auf, um an diesen Beispielen zu feilen. Und dabei entdeckte er, daß er in der Ungeduld des ersten Durchgangs einen ganzen Absatz übersprungen hatte, in dem die Idee dieser inneren Trennung anhand der Verzweigung von Geschichten erläutert wurde. Leskov, das war deutlich, spielte hier mit den zahlreichen russischen Wörtern für die Begriffe der Trennung und Spaltung, und es machte Perlmann rasend, daß er einfach kein Gespür für die Nuancen bekam und schließlich alles durch splitting und fission einebnen mußte. Zum erstenmal fand er das neue Wörterbuch enttäuschend. Razdvoit’ war verwandt mit dvoinik, dem Wort für Doppelgänger. Aber was bedeutete diese Verwandtschaft genau? Dann fehlte ein Beispielssatz, der seine Vermutung bestätigt hätte, daß raz"edinjat’ das Trennen von Personen bezeichnete, obwohl das – aber auch darin war er sich nicht ganz sicher – für das angegebene severing nicht galt. Und besonders ärgerlich war, daß ihn das Lexikon bei der Frage im Stich ließ, ob er die naheliegende Pointe mit cracking anbringen konnte, ohne dem Text Gewalt anzutun. Als er die englische Version dieses Abschnitts am Freitag, bevor er in die Trattoria ging, nochmals durchsah, strich er die Namen von Lurijas Schülern aus und paßte den Text entsprechend an. Wen kümmerten diese Namen schon.
In der Trattoria war es an diesem Abend laut, irgendein Verein, dem auch der Wirt angehörte, feierte Jubiläum, und sogar Sandra mußte beim Servieren helfen. Sie hatten ihm den kleinen Tisch in der Ecke freigehalten, aber bald setzte sich ein alter Mann mit Pfeife und Beret zu ihm.«Riesenwälzer», sagte er, als Sandra die Chronik brachte. Dann fielen ihm die Lider langsam über die Augen, und er schien bei seinem Bier einzuschlafen.
Es hatte Perlmann überrascht, daß Agnes damals vorschlug, am Jahrestag ihrer ersten Begegnung auf dem Markusplatz zu heiraten, dem Tag, den sie den Tag der Tauben nannten. Wo sie doch sonst alles geißelte, was nach Sentimentalität roch. Aber es hatte ihm gefallen, und er hatte auf dem Standesamt all seine Überredungskünste aufgebracht, um es möglich zu machen.
Als sie an jenem Tag dann auf den Zug nach Paris warteten, meldeten die Schlagzeilen der
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