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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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herauszuschrauben.

14
     
    Als er nach wenigen Stunden unruhigen Schlafs aufwachte, setzte er sich in der Morgendämmerung an Leskovs Text. Jetzt kamen die Abschnitte, in denen gezeigt werden sollte, daß nicht nur die Interpretation, sondern auch die erlebte Qualität der erinnerten Gefühle vom Erzählen abhing. Wurde das erzählerische Erinnern weitläufiger und zugleich dichter-das war die These-, so konnte es geschehen, daß die Färbung und Schattierung des erinnerten Erlebens sich drastisch veränderte. Es war, dachte Perlmann, geschickt von Leskov, bereits hier mit Begriffen wie Färbung und Schattierung zu operieren, die eigentlich in den Umkreis des Gesichtssinns gehörten. Damit bereitete er rhetorisch den späteren Gedanken vor, daß es sich, was die erzählerische Beeinflußbarkeit von Erlebnisqualitäten anging, bei sinnlichen Eindrücken nicht anders verhielt als bei Gefühlen. Aber stimmte denn die These, sofern sie Gefühle betraf, überhaupt?
    Es kam alles auf die Beispiele an. Im ersten Durchgang war er an ihnen gescheitert, weil das Taschenwörterbuch nur einen kleinen Teil des Wortschatzes enthielt, aus dem Leskov schöpfte. Dieses Problem war gelöst. Aber nun entdeckte er erneut, wie unsicher er im Grunde bei den englischen Wörtern war. Es war keine plumpe Unsicherheit, die auf einfachen Kenntnislücken beruht hätte. Die englischen Wörter waren ihm alle geläufig. Aber es war, als ginge er, wenn er sie ausprobierte, auf einem Untergrund, der jederzeit verrutschen konnte – es war ein bißchen, wie wenn man auf einer dünnen Schicht von Neuschnee über Glatteis ging.
    Das galt bereits für coloring, shade, hue, tone und nuance. Wie zum Beispiel mußte die Wortwahl ausfallen, wenn es um die Färbung von Herbstlaub ging? Und wie, wenn es sich um die politische Färbung einer Tageszeitung handelte? Wenn man hier ausglitt, konnte man Leskovs Text leicht verpfuschen und sogar lächerlich machen. Und ähnlich war es mit der Benennung und Beschreibung von Emotionen und Stimmungen. Verlassenheit war nicht dasselbe wie Einsamkeit; Schwermut und Trauer waren auseinanderzuhalten; Heiterkeit und Gelöstheit – wie war es hier? Es war, fand er, schon in der Muttersprache schwierig, zwischen rein rhetorischen Varianten und klar erlebbaren Unterschieden im Gefühl zu trennen. Und je weiter die Fremdsprache entfernt lag, desto weniger Sicherheit gab es in dieser Frage.
    Wie aber konnte man dann wissen, ob ein Beispiel wirklich ein Beleg für Leskovs These war? Und konnte man überhaupt erwarten, daß sich dieser Bereich des Wortschatzes von der einen in die andere Sprache sauber abbilden ließ? Oder war es am Ende so, daß jede Sprache die erlebte Innenwelt ein bißchen anders auffächerte? Und spräche das für oder gegen Leskovs These?
    Perlmann war hin und her gerissen zwischen der ärgerlichen Unsicherheit, die all das für das Übersetzen bedeutete, und der beglükkenden Empfindung, sich gerade eben einen neuen Gedanken erschlossen zu haben. Die Stunden verflogen. Zwischendurch trat er manchmal ans Fenster und blickte auf die Bucht hinaus, die auch heute von dem glühenden Herbstlicht erfüllt war, das sich so sehr von dem gebrochenen, fahlen Licht unterschied, das jetzt zu Hause in die Bäume vor seinem Fenster fallen mochte.
    Einmal abgesehen von der Übersetzerei: Wie war es der Sache nach mit Leskovs These? Würde sich die erinnerte Angst wirklich verändern, wenn die Erzählung über Kirstens Leukämie andere Wege ginge? War das bange, angstbebende Warten, als der junge Arzt mit der Hornbrille zum letzten Laborbericht gegriffen hatte, nicht etwas, was für immer feststand, genauso fest wie das Poltern der Erdklumpen auf Mutters Sarg? Und jene unvergeßliche Mischung aus Bewunderung und Beklemmung, die Schostakowitschs Erscheinen ausgelöst hatte? Gehörten solche Dinge nicht einfach zu einem festen Kern von erlebter Vergangenheit, um den herum sich Geschichten rankten, die man im Laufe eines Lebens öfter umschreiben mochte, ohne daß das Erlebniszentrum selbst sich dabei veränderte?
     
    Zittrig vor Hunger und Anstrengung ging Perlmann gegen halb zwei in die Trattoria. In der Chronik interessierte ihn heute nur der Tag, an dem die Angst um Kirsten damals ein Ende gefunden hatte. Kein anderer Tag hatte sich mit einer derart diamantenen Genauigkeit in sein Gedächtnis eingegraben. Nicht einmal der Tag der Tauben. Agnes hatte ihn am Arm berührt, als der Arzt, den Laborbericht in der Hand, ihnen

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