Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
Boulevardblätter den Tod Louis Armstrongs, und jetzt kam es ihm vor, als sei das Foto damals genau dasselbe gewesen wie dasjenige in der Chronik. Agnes, die ihn liebevoll Satchmo nannte, war danach eine Weile sehr still gewesen, und nach der Rückkehr hatten sie in der ersten gemeinsamen Wohnung die vielen Jazzplatten gehört, die sie besaß. Ihrer beider Empfinden war seltsam gegenläufig gewesen: Während er diese Klänge, die Agnes seit langer Zeit begleitet hatten, zu mögen begann, kamen sie ihr auf einmal fremd vor. Er wußte keine Einzelheiten mehr, aber am Ende ihrer Gespräche darüber hatten sie beschlossen, auf Abzahlung einen gebrauchten Flügel zu kaufen.
Auch an den Zeitungsständen damals in Paris war Armstrongs Tod das beherrschende Thema gewesen. An der Ecke neben dem Hotel gab es auch heute noch einen Kiosk, das hatte er sofort gesehen, als er in den letzten Tagen des vergangenen August nach Paris gefahren war, weil ihn der Beginn des neuen Schuljahres mit seinem lärmenden Eifer auf den Pausenplätzen in Panik versetzt hatte. Allerdings sah der Kiosk heute ganz anders aus als damals, als er dort zehn Tage lang jeden Morgen die Zeitung geholt hatte. Und auch das Hotel war kaum mehr wiederzuerkennen. Das hatte ihn verstimmt. Als hätte die Welt vor allem anderen die Aufgabe, mir als Bühne für mein Erinnern zu dienen. Mißmutig war er durch die heißen Straßen gestiefelt und hatte sich gefragt, was er in diesem Paris eigentlich sollte. Alles war anders als erinnert, und bei jeder derartigen Entdeckung wurde sein Französisch noch schlechter, so daß die Kellner ihm auf englisch oder deutsch antworteten. Nach der zweiten Nacht hatte er den Frühzug nach Hause genommen.
Dem alten Mann mit dem Béret fiel im Schlaf die Pfeife aus dem Mund. Er schrak auf und trank das Glas in einem Zug aus. Neugierig blickte er auf das Bild von Charles Manson, der von zwei Gefängniswärtern einen Gang entlanggeführt wurde. Das greise Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, und dann machte der Mann mit der Handkante die Gebärde des Kehledurchschneidens, die von einem Schnalzen der Zunge begleitet wurde.
Perlmann blätterte hastig zurück bis ins vorhergehende Jahr. Das Bild eines Contergan-Kindes, daneben ein Bericht über die Einstellung des Verfahrens. War der Bericht von schneidender Ironie oder nicht? So gut war sein Italienisch eben doch nicht.
Einmarsch der Amerikaner ins neutrale Kambodscha und Laos. Perlmann blätterte drei Jahre nach vorn: Friedensnobelpreis für Henry Kissinger. Das war ein Monat nach Kirstens Geburt gewesen, als Agnes endlich das Krankenhaus verlassen konnte, noch immer geschwächt von der Infektion. Nein, mit jener Infektion habe Kirstens Leukämie nicht das geringste zu tun, hatte der Arzt zwei Jahre später versichert. Starr vor Angst hatten sie nächtelang überlegt, ob sie das Risiko der erst kürzlich entwickelten Chemotherapie eingehen sollten. Für Monate überschattete die Angst alles andere, und die Nachrichten aus der Welt prallten daran ab. Sogar der letzte amerikanische Hubschrauber, der in Saigon abhob, ließ ihn kalt.
Nur der Tod von Dmitri Schostakowitsch drang zu ihm durch. Es war unglaublich gewesen, ihn leibhaftig auf die Bühne kommen zu sehen, nachdem die vierundzwanzig Präludien und Fugen, seine Hommage an Bach, verklungen waren. Ein Mann mit einer runden Hornbrille im verkniffenen, zuckenden Gesicht, der auf der einen Seite diese Musik geschrieben hatte und auf der anderen in einer Haßliebe zu Stalin gefangen gewesen war. Zum erstenmal hatte Hanna in einem Konzert neben Perlmann gesessen. Ihre verbundene Hand mit der Brandblase, die sie zu einer mehrtägigen Spielpause zwang, hatte in ihrem Schoß gelegen. Das einfache schwarze Kleid hatte ihm sehr gefallen.
Der alte Mann war einfach aufgestanden und gegangen, ohne zu zahlen. Perlmann zahlte für ihn, und es gab eine Diskussion, weil der Wirt wegen des erfolgreichen Nachhilfeunterrichts außer für das Bier partout kein Geld von ihm annehmen wollte. Nächste Woche wieder!
Heute kurvte ein verrückter Motorradfahrer um die leere Piazza Veneto. Das Dröhnen war bis zum Hotel zu hören.
Giovanni übergab Perlmann mit dem Schlüssel die vier Texte, die Adrian von Levetzov für seine Sitzung am Montag hatte verteilen lassen. Es waren insgesamt fast zweihundert Seiten. Perlmann legte sie auf den Koffer und holte dann die Leiter, um die Glühbirnen im Flur, die man in Ordnung gebracht hatte, wieder
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