Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)
die erlösende Mitteilung machte. Dann waren sie durch die halbe Stadt gegangen und hatten sich immer von neuem die Farben der naßglänzenden Herbstblätter gezeigt. Er hatte das erste Mal seine Lehrveranstaltungen mit einer Lüge abgesagt, und sie waren für eine Woche nach Sylt gefahren. Es wurden Tage der Gegenwart, Tage voller Wind und Weite und Erleichterung.
Daß damals der Tod von Jean Gabin in der Zeitung gestanden hatte, war ihm entfallen. Als er jetzt den langen Artikel in der Chronik las, fiel ihm wieder ein, wie er Agnes den Film Le chat erzählt hatte, während sie mit gurgelnden Schritten durchs Watt stapften. Jahrelang redete Gabin kein Wort mehr mit Simone Signoret, weil sie aus Eifersucht die von ihm geliebte Katze umgebracht hatte. Wenn sie sich abends beim Kamin gegenübersaßen, reichte er ihr kleine Zettel, auf denen immer dasselbe stand: le chat. Sie tat diese Zettel in eine Schublade, und eines Tages fielen sie durch eine ungeschickte Bewegung alle auf den Boden, Hunderte davon. Agnes hatte die Geschichte monströs gefunden, und er hatte sich geschämt, weil ihm Gabins Verhalten im Film so fremd nicht war.
Das erste Mal seit der Ankunft hatte Perlmann nach dem Essen das Bedürfnis zu gehen, und in der Nähe des Hotels fand er einen kleinen Weg, der in die Hügel hinaufführte. Während er mit einem Zweig rhythmisch auf die Mauer aus Naturstein klopfte, probierte er Leskovs These an den Gefühlen aus, an die er sich vorhin in der Trattoria erinnert hatte. Bald aber überließ er sich einfach dem Stolz darüber, daß er diesen langen russischen Text tatsächlich bald ins Englische übersetzt haben würde. Es blieben noch achtzehn Seiten bis zum Schluß, und sieben davon hatte er ja neulich schon bewältigt, auch wenn es da wegen des Problems mit dem Begriff der Aneignung noch kleinere Lücken gab. Als der Weg einen Bogen beschrieb und nun parallel zum Hang verlief, stützte er sich auf die Mauer und blickte auf Stadt und Meer hinunter. Mitte der Woche ist die Übersetzung fertig. Dann würde der geordnete Blätterstoß auf der sonst leeren Glasplatte des Schreibtischs liegen. Er hatte etwas geschafft, was er sich nicht zugetraut hätte. Er spürte, daß er, wenn er an diesen Augenblick dachte, eigentlich auch hätte darüber hinausdenken müssen. Aber das ging nicht. Es ging nicht.
Mitte der Woche war die Hälfte des Aufenthalts vorbei. Und doch war das Gebirge aus gegenwartsloser Zeit noch genauso hoch wie am Anfang. Und es war alles noch schlimmer als zu Beginn, denn die Angst, die sich wie eine lautlose Säure in den Übersetzerstolz hineinfraß und ihn aushöhlte, so daß er jeden Moment einstürzen konnte, ließ das Gebirge jetzt wie eine gigantische Wand erscheinen, die sich ihm entgegenneigte, mit jedem Herzschlag ein winziges Stück mehr.
«Es ist so gut wie unmöglich, dieses Licht auf den Film zu bannen», sagte Laura Sand und stellte die große Fototasche neben ihn auf die Mauer.«Es ist, als sei seine leuchtende Tiefe noch etwas ganz anderes als die physikalische Strahlung, auf die der Film reagiert. »
Perlmann war so heftig zusammengefahren, daß sie ihm erschrokken die Hand auf den Arm legte und sich entschuldigte. Es sei immer dasselbe, sagte sie; auch David, ihr Mann, erschrecke oft, weil sie so leise sei.
«Sarahs Krach gleicht das aus! Besonders bei dem verdammten Aerobic! »
Sie blieben bis in die Dämmerung hinein zusammen. Eigentlich möge sie es überhaupt nicht, wenn man ihr beim Fotografieren zusehe, sagte sie einmal.«Aber weil Sie es sind...»»
Sie lehrte ihn sehen. Wie Agnes. Und doch ganz anders. Agnes hatte stets von Licht, Form und Schatten geredet, von Helligkeit und Tiefe, Flächen und Kanten. Man hätte, wenn man ihr nur zuhörte, meinen können, sie sehe die Welt als ein menschenleeres geometrisches Gebilde. Dabei war ihr eigentliches Thema menschliche Bewegung gewesen. Nicht irgendwelche Bewegung: Momente, die über sich hinauswiesen, Szenen, die eine Geschichte in sich bargen und den Betrachter dazu zwangen, diese Geschichte zu erfinden. Erzählende Fotografie hatte sie es genannt. Verstehst du: Farben würden dabei nur stören, vom Wesentlichen ablenken. Es kommt drauf an, daβ der Mann auf dem Bahnsteig in seinen Bewegungen explodiert, wenn er die Frau auf dem Trittbrett erblickt. Welche Farbe sein Mantel hat, ist unerheblich.
Ein unglaubliches Gespür für die Dichte von Augenblicken hatte sie besessen. Und unglaublich war auch ihre Geduld
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