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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Einzelheit eine herausgehobene, besonders intensive Gegenwart zu verleihen vermochte – so, als würde diese Einzelheit erst durch ihren Blick aus der verschwommenen Ferne eines zeitlichen Schattendaseins in die lichte Gegenwart der fest umrissenen Formen geholt. Wie er sie um diese Begabung beneidet hatte!
    Dafür hatte sie nie geplant, Sachen vergessen, in ihrer chaotischen Zettelwirtschaft die Übersicht verloren. Dann war er es, der einsprang, um die Dinge geradezubiegen. Darüber war er zum zwanghaften Planer geworden, zum Übersichtsfanatiker. Das war der Preis gewesen, der Preis für ihre Gegenwart.
     
    Der Speisesaal sah heute abend sehr anders aus. Die meisten der runden Tische waren ersetzt worden durch eine festlich geschmückte Tafel, und an den Kronleuchtern hingen Girlanden aus buntem Papier. Es war das Dîner einer Hochzeitsgesellschaft, die von zwei extra angeheuerten Kellnerinnen bedient wurde, wie Adrian von Levetzov zu berichten wußte.
    «Auch wieder mal hungrig?»fragte Millar und sah Perlmann mit geneigtem Kopf und resigniertem Lächeln an. Perlmann schwieg und konzentrierte sich auf die Muschelvorspeise. Die Scherze, die an der Tafel drüben gemacht wurden, waren schwer zu verstehen, die meisten der Hochzeitsgäste sprachen einen Dialekt, den er nicht verstand.
    Jetzt berichtete von Levetzov von einem Buch über Henry Kissinger, das in der Herald Tribune besprochen worden war.
    «Dieser Kriegsverbrecher», sagte Giorgio Silvestri gepreßt.«Hat Nixon zur Bombardierung von Kambodscha und Laos gedrängt. Das waren damals neutrale Länder. Der Mann sollte vor Gericht gestellt werden. Er sah herausfordernd zu Millar hinüber, der seinen Fisch zerlegte.«Nicht wahr, Brian?»
    Millar schob das Fischmesser behutsam unter die Gräte, half mit der Gabel nach und löste das ganze Skelett heraus, um es dann auf den Tellerrand zu tun. Um seine Mundwinkel zuckte es. Er kostete den Moment aus. Schließlich nahm er einen Schluck Wein, tupfte sich die Lippen mit der Serviette und erwiderte Silvestris ungeduldigen Blick mit einem weichen, warmen Lächeln, wie Perlmann es an ihm noch nie gesehen hatte.
    «Absolut richtig, Giorgio. Genau das habe ich damals in der College-Zeitung geschrieben. Auf der ersten Seite. Daraufhin blieb der monatliche Scheck meiner Eltern eine Zeitlang aus. »Er kniff die Augen zusammen.«Wirklich eingerenkt hat sich das nie mehr. »
    Es war unglaublich, wie schnell Silvestris Gesicht reagierte. Überraschung und Irritation hatten sich kaum angedeutet, da fiel der angespannte, feindselige Ausdruck bereits in sich zusammen und machte einem Grinsen Platz, in dem so deutlich wie in Worten das Bewußtsein geschrieben stand, daß sein Affekt und ein Urteil von sträflicher Oberflächlichkeit ihn zu einer schematischen Erwartung verführt hatten, die Millar weit unterschätzte. Er hob das Glas in Millars Richtung. «Scusi. Salute!»
    Perlmann brauchte viel länger, um mit seiner Überraschung fertig zu werden. Millar als Wortführer der Studentenbewegung. Verstohlen sah er zu Millar hinüber, der sich jetzt wieder auf seinen Fisch konzentrierte. Etwas in ihm begann sich zu bewegen, langsam und ächzend wie ein eingerostetes Zahnrad. Vielleicht hatte er ihn, aus purer Angst heraus, falsch eingeschätzt. Angst war ein Gefühl, das die anderen zur bloßen Projektionswand degradierte. Er war kurz davor, ihn zum Zeichen seiner veränderten Wahrnehmung anzusprechen, da fiel ihm wieder die blöde Bemerkung wegen des Essens ein, und er widmete sich weiter der Aufgabe, den Kopf des Fischs abzutrennen. Erst als der Kellner die Teller abgeräumt hatte, war der Ärger weit genug verblaßt.
    «Eine Frage, Brian», begann er und legte ihm dann seine Unsicherheit dar, welche die verschiedenen englischen Wörter für Färbung und Schattierung betraf. Auch jetzt überraschte ihn Millar. Er probierte die verschiedenen Wörter aus, teilweise laut, dann wieder mit stummen Bewegungen der Lippen. Es begann ihm Spaß zu machen, und wenn er zwischendurch einen Schluck Wein nahm und ihn auf der Zunge zergehen ließ, sah es aus, als schmecke er mit dem Wein auch die Wörter ab.
    Wieder zog und ächzte es in Perlmanns Empfindungen. Millar, der Mann aus Rockefeller, der intellektuelle Bach-Interpret, als sinnlicher Mensch. Sheila. Und dann, so plötzlich, als führe ein Blitz in ihn, überfiel ihn wieder ein Haß auf diesen Brian Millar, der ihm durch sein genußvolles Abwägen von Bedeutungsnuancen die Tätigkeit

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