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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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zum großen roten Lexikon und fand dort viele der Wörter wieder, die Laura Sand ihm gestern nachmittag erklärt hatte. Er stellte eine englisch-italienische Liste dieser Wörter zusammen und war ärgerlich, daß das russisch-italienische Wörterbuch zu beschränkt war, um alle Lücken zu schließen.
    Als er im Handkoffer nach neuem Schreibpapier suchte, fiel ihm das schwarze Wachstuchheft mit seinen Aufzeichnungen in die Hand. Der einzige eigene Text, den ich mithabe. In einer Mischung aus Neugierde und Scheu setzte er sich in den roten Sessel und begann zu lesen:
    Man kann es nicht oft genug betonen: Man wächst in die Welt hinein durch Nachplappern von Wörtern. Diese Wörter kommen nicht allein, wir hören sie als Teile von Urteilen, Sinnsprüchen, Sentenzen. Mit diesen Urteilen verhält es sich lange Zeit ähnlich: Auch sie plappern wir einfach nach. Nicht viel anders als den Refrain eines Kinderlieds. Und man muß es fast als einen Glücksfall bezeichnen, wenn es einem später gelingt, diese aufdringlichen, betäubenden Wortfolgen als das zu erkennen, was sie sind: blinde Gewohnheiten.
    MESTRE IST HÄSSLICH, sagt der Vater, wann immer die Rede auf Venedig kommt. VENEDIG IST EIN TRAUM. MESTRE DAGEGEN IST HÄSSLICH. Man hört den Satz immer wieder, er kommt mit der Regelmäßigkeit eines Automaten. Es ist die schiere Wiederholung, das Klicken eines Automatismus, sonst nichts. Und dann spricht man den Satz nach. Man hat ihn nicht überprüft, von Aneignung keine Spur. Es geschieht wirklich nur dieses: Man spricht ihn nach, wiederholt ihn mit wachsender Routine. Das ist alles. Man versteht den Satz, es ist ein Satz der Muttersprache. Trotzdem drückt er nichts aus, was man einen Gedanken nennen könnte. Es ist ein blind verstandener, buchstäblich gedankenloser Satz.
    DIE POEBENE IST LANGWEILIG ist ein anderer dieser Sätze, dieses Mal einer der Mutter. Man sagt in Zukunft:«Wenn es auf der Fahrt durch die Poebene Nacht ist, so macht das nichts, die Poebene ist ohnehin langweilig»; und so weiter. Der Satz steht nicht mehr zur Disposition. Er ist ein innerer Fixpunkt, eine Konstante, ein Träger im Gerüst. Er stellt für immer eine Weiche, macht ein Geleise unbefahrbar, verbaut eine Möglichkeit. Er stiehlt einem eine Landschaft, ein Stück Erde, denn er dirigiert einen um diese Gegend herum und macht sie dadurch zu einem weißen, blinden Fleck auf der Landkarte der Erfahrungen. Mit wie vielen unserer gewohnten Sätze verhält es sich so wie mit den Sätzen über Mestre und die Poebene – ohne daß wir es merken?
    Die Erinnerung an das kahle Hotelzimmer mit der hohen Decke und den uralten Armaturen im Badezimmer drängte ins Bewußtsein, eine Erinnerung, die Perlmann seit Jahren nicht mehr angerührt hatte. Auch jetzt wollte er nichts mit ihr zu tun haben. Er blätterte um, entschlossen, mit dieser Bewegung das ferne Echo der damaligen Empfindungen zu verscheuchen.
    Und da sah er verdutzt, daß der Text auf englisch weiterging, mit kleineren Buchstaben und einer dünneren Kugelschreibermine. Zunächst kamen Abschnitte, in denen das Thema vom Anfang noch einmal aufgenommen und variiert wurde. Die nachgeplapperten Sätze wurden jetzt als festgefrorene Elemente beschrieben, die in ihrer tückischen Unauffälligkeit verhinderten, daß Erfahrungen gemacht wurden und sich im Erleben etwas veränderte. Sie hätten eine hypnotische Wirkung, hatte er notiert, und dann hinzugefügt, daß das nicht nur für Feststellungen wie diejenigen über Mestre und die Poebene gelte, sondern auch für Fragen, die bei jedem Gespräch über die Zukunft wie ein Refrain zu kommen pflegten: UND DANN? WAS WILLST DU DANACH MACHEN? WANN BIST DU FERTIG? WOZU SOLL DAS GUT SEIN?
    Linguistic waste hatte er alles genannt, was auf diese Weise das Erleben verstellte und einem die Möglichkeit raubte, sich auf Neues, Überraschendes einzulassen. Sprachschutt, dachte Perlmann, und während er das Wort halblaut wiederholte, geriet er nun doch in den Sog des Erinnerns und sah sich in dem kahlen Zimmer in Mestre auf dem Bett liegen, wütend über all den Sprachschutt, den er in sich viel zu spät entdeckt hatte, und wütend auch über sich selbst, weil er wegen eines einzigen Satzes diese unsinnige Reise unternommen hatte.
     
    Er hatte einen Nachtzug nach Mailand genommen und war dann an einem grauen Morgen Anfang Oktober durch die Poebene gefahren, obwohl das ein Umweg war. Wie es dort ausgesehen hatte, wußte er nicht mehr. Aber sehr genau erinnerte er

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