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Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition)

Titel: Perlmanns Schweigen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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work! Dabei haßte er Englisch.
    Bachs Präludien und Fugen wurden unter Millars Händen auch heute abend zu unsichtbaren Gebilden von kristalliner Architektonik – feine wei ß e Linien hinter der Nacht . Das war die Musik, die Schostakowitsch damals in Leipzig derart fasziniert hatte, daß er mit einem eigenen Zyklus reagierte. Perlmann versuchte, die Fugen der beiden Komponisten nebeneinander zu hören. Hatte er das gläserne Perlen und die besondere Art des Verklingens, die Schostakowitschs Stücke kennzeichneten, damals in dem Konzert eigentlich wirklich gemocht? Oder war es eher Hanna mit der verbundenen Hand gewesen, die alles verklärt hatte?
    «Du hast ausgesehen, als seist du sehr weit weg, auf einem anderen Stern», sagte Evelyn Mistral beim Hinausgehen.«Machen wir morgen wieder einen Spaziergang? Vielleicht wird ja wieder geheiratet! »
    Perlmann nickte.
     
    Aber noch nicht wirklich ein Einfall. Kaum hatte er die Tür hinter sich zugemacht, schlug Perlmann das russische Wort für Einfall nach und versuchte dann, Schostakowitschs ganze Bemerkung auf russisch zu formulieren. Er war unsicher, ob die Art, wie er die russischen Wörter brav aneinanderreihte, die flüßige Beiläufigkeit der deutschen Bemerkung traf. Und plötzlich kam es ihm vor, als könne er überhaupt kein Russisch. Eine Weile starrte er auf die Wörter, um sich zu vergewissern, daß er die kyrillische Schrift wirklich lesen konnte.
    Hatte er selbst jemals einen wirklichen Einfall gehabt? Der Mond schien ins Zimmer. Er zog die Vorhänge zu. Jetzt war die Dunkelheit erstickend. Er schob die Vorhänge wieder zurück. Neun Tage. Zehn. Die Panik sickerte in die quälende Wachheit hinein. Er ging ins Bad und nahm eine ganze Schlaftablette.

15
     
    Er schlief bis weit in den Sonntag hinein. Der Kellner, der ihm das späte Frühstück brachte, überreichte ihm einen Zettel, der in der Tür gesteckt hatte: Also doch kein«Hochzeitsspaziergang»? Wenn du am Nachmittag etwas unternehmen willst, melde dich! Evelyn.
    Ihre sorgfältige, nach vorne geneigte Schrift mit den gerundeten Verbindungslinien zwischen den Buchstaben gefiel ihm, und als der Kellner die Tür hinter sich zugemacht hatte, ging er zum Telefon. Mitten im Wählen legte er wieder auf. Nicht mit diesem Kopf, und überhaupt nicht in einer derart zittrigen Verfassung.
    In Leskovs Text kamen jetzt die Seiten, auf denen die Erinnerung an sinnliche Erfahrungen in Analogie zur Erinnerung an Gefühle interpretiert wurde. Der reiche, von Leskov offenbar mit Genuß ausgebreitete Wortschatz für die Schattierungen in Geruch und Geschmack, aber auch für Tonqualitäten, war wie ein Dickicht, durch das man sich Schritt für Schritt hindurchkämpfen mußte, und wieder einmal wurde Perlmann bewußt, wie viele Winkel es auch im Englischen gab, in die er noch nie geleuchtet hatte. Oft mußte er zum englisch-deutschen Wörterbuch greifen, um zu wissen, wovon die Rede war, und es blieben gut zwei Dutzend Stellen, wo er ein englisches Wort hinschrieb, ohne zu wissen, was es bedeutete. Millar wüβte es. Er kam sich dann vor wie eine Maschine, die Zeichen nach bloß syntaktischen Regeln zuordnete, ohne irgend etwas von der Entsprechung der Bedeutungen zu wissen. Das ließ nicht nur eine Empfindung der Blindheit und Hilflosigkeit entstehen, sondern verhinderte auch, daß er richtig in den Sog des Übersetzens geriet, der ihn gegen die Panik hätte schützen können, die jetzt, wo die nächtliche Betäubung abgeklungen war, mit immer mehr Macht ins Bewußtsein drängte.
    Als er spürte, daß ihn die Angst im nächsten Augenblick überspülen und mit sich fortreißen würde, streckte er den Arm aus und griff nach dem russisch-italienischen Wörterbuch in der hinteren Ecke des Schreibtischs wie nach einem Rettungsanker. Er hatte Glück, eine Reihe der unverstandenen Wörter wurde ihm über diesen Umweg klar, und nun warf er sich mit aller Kraft in den Versuch, die nächsten Absätze direkt ins Italienische zu übersetzen.
    Die ersten Zeilen, die er direkt hinter einen englischen Absatz geschrieben hatte, strich er wieder aus und nahm für den italienischen Text neue Blätter. Allmählich stellte sich das Prickeln ein, das er immer empfand, wenn er zwischen zwei Fremdsprachen hin- und hersprang. In den nun folgenden Passagen ging es um farbliche Erinnerungen, und jetzt stellte er fest, wie wenig versiert er im Italienischen war, wenn es um ausgefallene Farbwörter ging. In freudiger Aufregung griff er wieder

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