Perry Clifton und das Geheimnis der weißen Raben
Geste auf das an der Wand neben Perry Cliftons Bett stehende Sofa. „Ich könnte ja dort schlafen?“
„Gute Idee. Hol Kissen und Bettzeug. Ich ziehe mich inzwischen auch aus. Den Rest der Nacht werden wir ja Ruhe haben.“
Perry ahnt nicht, daß diese seine Ansicht nur zur Hälfte stimmt.
Ein Geist hat Verspätung
Es ist 3 Uhr 10. Während sich am östlichen Horizont die ersten, kaum wahrnehmbaren hellen Streifen zeigen, scheint auf Schloß Catmoor noch alles in tiefstem Schlummer zu liegen.
Auch Perry Clifton atmet tief und fest. Dicki dagegen hat sich so in Kissen und Decke vergraben, daß nicht einmal die Nasenspitze zu sehen ist. Ein mattes Halbdunkel liegt über dem Zimmer mit den beiden Schläfern.
Ein mattes Halbdunkel herrscht auch in der Halle. Und man muß schon die Augen einer Eule haben, um den Schatten zu entdecken, der jetzt schlangengleich und geräuschlos die Stufen zum ersten Stock hochgleitet. Es ist ein Mann, der, in einen dunklen Overall gekleidet, Schritt für Schritt den Gang entlangschleicht. Seine Kreppsohlen hinterlassen bei jedem Schritt auf den Fliesen des Ganges ein leises Fiepen. Unter dem linken Arm trägt er einen Karton von der Größe einer Schuhschachtel.
3 Uhr 15. Der nächtliche Wanderer steht vor der zweiteiligen Tür, hinter der Perry Clifton und Dicki Miller einem neuen Morgen entgegenschlafen. Der Mann beugt sich vor und preßt sein Ohr an die Türfüllung, und für Sekunden zeigt das Gesicht angespannte Konzentration, dann huscht ein ironisches Lächeln über die Mundwinkel. Vorsichtig tastend gleitet die rechte Hand des Mannes am Türrahmen aufwärts. Suchend bewegen sich die Finger… Und sie finden, was sie suchten.
3 Uhr 18. Unter der Hand des Fremden ertönt ein leises, dumpfes Knacken. Und wie von Geisterhand bewegt, schwingt die Tür, dem Druck gehorchend, zurück. Aus den beiden verriegelten Teilen ist eine einzige Türwand geworden, die geräuschlos nach innen gleitet.
Fünf, sechs Atemzüge lang verharrt der Eindringling reglos unter der offenen Tür. Alles an ihm ist gespannt — fluchtbereit. Als er jedoch das regelmäßige Atmen Perry Cliftons vernimmt, tritt er vorsichtig ein. Schritt für Schritt nähert er sich dem kleinen Rauchtisch, der, von zwei Sesseln flankiert, vor Cliftons Bett steht.
Plötzlich stutzt er. Ein Geräusch hat ihn zusammenfahren und erstarren lassen. Ein Geräusch, das nicht aus Perry Cliftons Richtung kam. Behutsam gleitet die freie rechte Hand des Mannes in die Brusttasche des Overalls, kommt wieder zum Vorschein — und der schmale Lichtkegel einer kleinen Taschenlampe tastet sich in die bewußte Richtung, um fast augenblicklich wieder zu verlöschen. Der ungebetene Besucher hat den wie einen Igel zusammengerollten Dicki entdeckt. Und seine Lippen murmeln ein paar unverständliche Worte.
Als der Mann zehn Sekunden später das Zimmer der ahnungslosen Schläfer wieder verläßt, erinnert nur noch ein weißer Pappkarton von der Größe einer Schuhschachtel an seinen nächtlichen, oder besser seinen frühen Besuch. Wie ein heller Fleck leuchtet der Karton gespenstisch von der dunklen Platte des Rauchtischs herüber.
Ein neuer Tag
Perry Clifton dehnt und streckt sich. 7 Uhr 25 zeigt seine Uhr. Zeit zum Aufstehen.
„He, Dicki — aufwachen!“ ruft er gutgelaunt zum Sofa hinüber, auf dem sich Dicki verschlafen zu räkeln beginnt. Perry Clifton ist bester Laune. Die Ereignisse der vergangenen Nacht liegen hinter ihm und ein interessanter Tag, so hofft er, vor ihm. Selbst der Tag draußen vor den Fenstern scheint sich von der besten Seite zu zeigen: Die Sonne scheint. Und da sie das auch gestern bereits tat, ist geradezu ein kleines Wunder geschehen. Denn wann passiert das schon in Schottland zwei Tage hintereinander?
„Es wird ein schöner Tag, Dicki. Los, aufstehen. In einer halben Stunde kommt Jamesberry mit dem Frühstück!“
„Bin noch müde“, nuschelt Dicki und will sich gerade die Decke über die Ohren ziehen, als sein Blich zufällig auf den Rauchtisch fällt. Dicki kneift die Augen zusammen und reißt sie wieder auf. Dann reibt er sich den letzten Schlafsand heraus, doch was er sieht, ist kein Traumgebilde. Dabei ist er fest davon überzeugt, daß das gestern abend noch nicht da war. Dicki richtet sich auf dem Sofa auf und zeigt auf den Rauchtisch.
„Als wir gestern die Koffer ausgepackt haben, war der Karton aber nicht dabei, Mister Clifton?“
„Welcher Karton, Dicki? Du träumst wohl noch,
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