Perry Clifton und das Geheimnis der weißen Raben
Gleiten ein Absinken in wohlige Geborgenheit. Perry Clifton weiß nicht, daß seine Augen fest verschlossen sind, er weiß überhaupt nichts mehr. Perry Clifton ist hinübergedämmert in das Reich der Träume.
23 Uhr 55… noch fünf Minuten…
23 Uhr 57… noch drei Minuten…
23 Uhr 59… noch eine… nein, keine Minute mehr. Die Schloßuhr schlägt Mitternacht — eine halbe Minute zu früh nach Perrys Armbanduhr. Doch der hört nichts, weder den ersten noch den letzten Glockenschlag. Der Detektiv schläft tief und fest und — die Geister scheinen nicht zu kommen. Gegen 0 Uhr 30 stößt Perry Clifton im Traum einen tiefen Seufzer aus und rollt sich auf die linke Seite.
1 Uhr… Eine Stunde nach Mitternacht…
Und jetzt kommen sie, die Geister von Schloß Catmoor. Sie kommen mit einer Stunde Verspätung. Zuerst ist es das leise, weit entfernte Krächzen eines Raben, das aus einer anderen Welt zu kommen scheint. Doch bald wird es lauter, vermischt sich mit anderen Geräuschen. Mit hellem Scheppern von Ketten… mit Wimmern und Zischen…
Perry Clifton schläft noch immer. Ein Lächeln umspielt im Schlaf seine Lippen.
Das Krächzen wird lauter… Es ist nicht mehr das Krächzen eines einzelnen Raben, es ist das Krächzen hunderter. Es wird lauter und hallender. Das Klirren der Ketten wird zum Dröhnen, das Kichern gleicht einem Kreischen, und das Schluchzen ist in ein markdurchdringendes Jammern übergegangen.
Perry Clifton schläft noch immer. Nur das Lächeln auf seinen Lippen ist verschwunden. Im Nebenzimmer richtet sich Dicki Miller langsam im Bett auf. Seine Hände sind voller Angstschweiß, sein Hals wie ausgetrocknet und seine Augen weit aufgerissen. Obwohl Dicki genau ausmachen kann, daß die entsetzlichen Geräusche aus Perrys Zimmer kommen, läßt ihn die nackte Furcht erzittern.
Das schrille Krächzen, Kettenrasseln, Kichern, Wimmern, Schluchzen und Kreischen hat sich zu einem Höllenlärm vereint und läßt für Augenblicke sogar die Scheiben erzittern.
Jetzt reißt es auch Perry Clifton hoch. Er ist sofort hellwach. Gerade als das Geistergeschrei schlagartig verstummt, springt er aus dem Bett, um zum Lichtschalter zu gelangen. Dabei stolpert er über einen Stuhl, der mit lautem Poltern umfällt und auf dem gebohnerten Parkett entlangrutscht. Endlich hat er den Schalter erreicht, drückt ihn herunter. Doch außer einem feinen Knacken tut sich nichts. Es bleibt so dunkel wie zuvor.
„Die Schurken haben tatsächlich an alles gedacht!“ schimpft Perry leise vor sich hin und beginnt in seiner Hosentasche zu kramen. Plötzlich stutzt er, war da nicht eben ein Geräusch? Perry Clifton zieht die Hand vorsichtig zurück. Da wieder… Es klingt wie das Tasten nackter Füße.
„Hallo, Mister Clifton, sind Sie noch munter?“
Perry Clifton atmet erleichtert auf und will aufs neue nach Streichhölzern suchen, als das Deckenlicht aufflammt. Jemand muß die Sicherung festgedreht haben.
Perry Clifton und auch Dicki schließen für einen Augenblick geblendet die Augen. Dann ist es Clifton, der auf Dicki zugeht und ihn behutsam am Arm faßt.
„Du bist munter geworden, was?”
Dicki nickt. „Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich keine Angst habe, Mister Clifton.“ Obgleich sein Gesicht diese Worte Lügen straft, tut Perry Clifton so, als würde er sie glauben. Ja, er gibt sich gelassen.
„Dazu haben wir auch gar keinen Grund, Dicki. Es wäre doch gelacht, wenn wir uns vor solch einem Mummenschanz fürchten würden! Meinst du nicht auch?“
Wieder nickt Dicki stumm, während seine Hände krampfhaft das viel zu lange — von Perry Clifton stammende — Nachthemd hochgerafft halten.
„Ob die Geister jede Nacht kommen?“ fragt er leise.
„Wir werden es ihnen abgewöhnen“, erwidert Perry. „Aber wo kommt denn das Geschrei der vielen Raben her, Mister Clifton?“ Dicki blickt sich scheu im Raume um, als könnten irgendwo noch welche der gefiederten Ruhestörer sitzen.
„Morgen früh werden wir die Räumlichkeiten gründlich untersuchen. Ich glaube, daß wir da allerlei Überraschungen erleben.“ Perry Clifton lächelt seinem kleinen Freund aufmunternd zu, und als habe er dessen geheimsten Gedanken erraten, gibt er ihm einen freundschaftlichen Klaps und sagt: „Ich schlage vor, daß du den Rest der Nacht bei mir verbringst. Es wäre mir lieber. Bist du einverstanden?“
Dicki senkt den Blick, um seine Freude nicht zu zeigen.
„Ja!“ stimmt er kleinlaut zu und zeigt mit einer verlegenen
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