Perry Clifton und das Geheimnis der weißen Raben
„Donnerwetter, jetzt hätte ich es bald vergessen. Ich bin doch zum Dinner eingeladen!“ zieht er sich das nasse Hemd herunter und verschwindet im Bad. Dicki geht ihm langsam nach.
„Und was mache ich inzwischen?“
„Laß dir doch mal die berühmte Waffensammlung zeigen“, ruft Perry und taucht unter den kalten Wasserstrahl der Handbrause.
„Sind Sie lange zum Dinner?“ Doch Dicki muß seine Frage noch einmal wiederholen.
„Sind Sie lange zum Dinner, Mister Clifton?“
„Kaum, Dicki. Da es sich um keine Hochzeitsfeier handelt, werden wir sicher mit drei Gängen auskommen. Du hast doch hoffentlich keine Angst, jetzt am Tage?“
„Angst?“ Dicki tut, als höre er dieses Wort zum erstenmal, und bequemt sich dann doch zu einem nicht allzu verbindlichen Mittelweg: „Ich werde sehen, daß ich Paganini finde. Der kann mir ja das Schloß zeigen!“
„Gute Idee!“ stimmt Perry zu. Doch dann fühlt er sich verpflichtet, Dickis Forscherdrang ein wenig einzuschränken: „Aber nicht fortlaufen!“
Dicki verspricht es.
Punkt 12 Uhr machen sie sich beide auf den Weg. Während Perry Clifton dem Südflügel zustrebt, sucht Dicki Miller Mister Jamesberry.
Seemannsgarn
Dicki muß nicht lange suchen. Als er das Ende des Ganges erreicht, sieht er Jamesberry in seltsam verrenkter Haltung unten in der Halle auf einem mit weißem Schaffell bezogenen Hocker sitzen.
„Hallo, Mister Paganini, was tun Sie denn da?“
Jamesberry hat Mühe, in seiner Stellung den Kopf nach oben zu drehen, und er tut es nur unter Ächzen und Stöhnen. Von den gleichen Geräuschen wird auch seine Antwort begleitet:
„Ich stopfe mir einen Strumpf!“ dringt es krächzend aus seinem verdrehten Hals.
Dicki Miller verschlägt es die Sprache, und nur zögernd geht er langsam, Stufe um Stufe, zur Halle hinab. Er ist voller Mißtrauen. Will ihn Jamesberry vielleicht gar auf den Arm nehmen? Nach Dickis bisherigen Erfahrungen gehört Strümpfestopfen in den Zuständigkeitsbereich seiner Mutter. Na schön, wenn der alte Jamesberry schon keine Mutter mehr hat — es muß doch jemand geben, der ihm die Strümpfe stopft! Außerdem — daß sich jemand einen angezogenen Strumpf stopft, das hat er noch nie gesehen. Als Dicki Jamesberry dann bei dieser eigenartigen Tätigkeit zusieht, geschieht dies bald mit einer gewissen Spannung. Spannung deshalb, weil nie feststeht, ob Jamesberry mit der riesigen, furchteinflößenden Stopfnadel auch am anderen Ende der Socke durchkommt oder ob er auf eine den Weg versperrende Zehe stößt. Trifft letzteres ein, verzieht der Sockenreparateur jedesmal schmerzhaft das Gesicht und räumt mit der freien Hand das Hindernis beiseite. Es versteht sich, daß dies alles unter ständigem Stöhnen und Seufzen vonstatten geht.
„Warum ziehen Sie denn den Strumpf nicht einfach aus, Mister Jamesberry?“ erkundigt sich Dicki und kauert sich vor dem alten Hausdiener hin.
„Weil es so bequemer ist“, stöhnt Paganini. „Ich stopfe immer so.“
„Und immer hier in der Halle?“
„Immer! In meinem Zimmer habe ich keinen solchen Hocker, mein Sohn. Und den braucht man für diese Methode.” Dicki antwortet nicht darauf. Was soll er auch sagen? Und er ist froh, als Jamesberry mit einem Seufzer abgrundtiefer Erleichterung jetzt seinen Fuß freigibt. „So, das wäre wieder einmal geschafft. Wo ist denn dein Onkel, Dicki?“
„Drüben bei Sir Everbridge zum Dinner!“
Jamesberry macht eine abwertende Handbewegung. „Der Arme! Für die Herrschaften gibt es heute faules Fleisch.“ Dicki schluckt. Er forscht in dem Gesicht des Alten, sucht nach einer Bestätigung, daß dieser nur einen Scherz gemacht hat — doch Jamesberry verzieht keine Miene.
„Was ist das, faules Fleisch?“ erkundigt sich Dicki vorsichtig.
„Stallhase. Ein Stallhase ist ein faules Tier. Was soll er auch weiter tun in seinem engen Käfig? Er muß ja faul werden!“ Jamesberry klopft sich vor die Brust: „Ich würde nie einen Stallhasen essen.“ Umständlich schlüpft er in seinen Schuh. „Soll ich Ihnen mal etwas verraten, Mister Paganini?“ versucht Dicki des alten Mannes Interesse für die nächtlichen Ereignisse zu erwecken.
„Du willst mir etwas verraten?“
Dicki nickt und senkt die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern: „Die Geister waren heute nacht bei uns!“ Jamesberry sieht sich rasch nach allen Seiten um, bevor er zurückflüstert: „Ich habe sie auch gehört. Die weißen Raben sind an meiner Zimmertür
Weitere Kostenlose Bücher