Persilschein
erst am frühen Morgen fahren würde. Er würde also zu Fuß gehen müssen. Realistisch schätzte er, dass er für den Heimweg in seinem Zustand eine Stunde benötigen würde. Viel Aufwand für jemanden, der sich vorgenommen hatte, um sechs Uhr als Aushilfe am Dortmunder Gemüsemarkt anzufangen.
Er dachte nach. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten war eine Gerade. Das wusste er noch aus dem Schulunterricht. Und ein Bahngleis folgte im Allgemeinen dieser Linie. Da lag es doch nahe, das Gleis zu benutzen. Er würde zehn, fünfzehn Minuten sparen.
Sicherheitshalber studierte er erneut den Fahrplan. Nein, kein Zug fuhr mehr. Und Güterzüge waren um diese Zeit nur selten unterwegs. Außerdem würde er das Herannahen eines Zuges ja rechtzeitig bemerken. Dampflokomotiven machten Lärm. Da war immer noch Zeit, beiseitezuspringen.
Er durchquerte das Bahnhofsgebäude, ging auf einen der Bahnsteige und schaute sich um. Niemand zu sehen. Kurz entschlossen ging er in die Hocke, stützte sich mit der linken Hand an der Bahnsteigkante ab und sprang auf die Schienen. Dann marschierte er Richtung Osten.
Die kalte Nachtluft ließ ihn mit jedem zurückgelegten Meter nüchterner werden. Bald hatte er seinen Rhythmus gefunden. Wenn er einen großen Schritt machte, konnte er jede zweite Schwelle erreichen. Regelmäßig blickte er nach hinten, für den Fall, dass sich ein Zug näherte. Doch was sollte ihm um diese Zeit schon passieren?
Kurz nachdem er die Herner Innenstadt verlassen hatte, kamen ihm drei Lichter entgegen, die schnell größer wurden. Er wollte zur Seite springen, rutschte aber auf dem feuchten Schotterbett aus und fiel zwischen die Schienen. Fauchend näherte sich die Dampflok. Hastig rappelte Breitschneider sich auf und brachte sich im letzten Moment mit einem Hechtsprung in Sicherheit. Die Lok schoss donnernd an ihm vorbei. Das war knapp gewesen.
Heinz Breitschneider wartete, bis die Bahn im Dunkeln verschwand. Dann ordnete er seine Kleidung und nahm den Marsch wieder auf. Nach wenigen Metern blieb er erschrocken stehen. Seine Geldbörse! Er tastete seine Gesäßtasche ab. Nichts. Hektisch suchte er in den Jackentaschen. Ebenso erfolglos. Er hatte sie verloren. Über vierhundert Mark waren noch darin. Er musste sie wiederfinden! Eilig hastete Breitschneider zurück zu der Stelle, an der er gestürzt war. Irgendwo musste sie sein, hier, zwischen dem Schotter. Gebückt lief er im Gleis auf und ab, seine ganze Aufmerksamkeit galt seiner Suche. Da! Dort lag sie. Neben einem der Schienenstränge. Breitscheid ging auf die Knie und streckte die Hand aus.
Die aus Richtung Herne kommende Diesellokomotive fuhr fast mit Höchstgeschwindigkeit, zog sie doch nur zwei Postwagen. Und sie war nicht so laut wie eine Dampflok.
Als Heinz Breitschneider den herannahenden Koloss bemerkte, war es schon zu spät für eine Flucht.
Und auch der Lokomotivführer entdeckte den Mann auf den Gleisen erst unmittelbar vor dem Aufprall. Die von ihm eingeleitete Notbremsung setzte ein, nachdem die Lokomotive Heinz Breitschneider bereits überrollt hatte.
20
Samstag, 30. September 1950
Natürlich hatte Goldstein seinen Vorgesetzten, Kriminalrat Saborski, noch am Freitag von seinem Verdacht und der Aussage der Zeugin Krafzyk unterrichtet. Saborski wiederum gab grünes Licht zur Weiterleitung an die Staatsanwaltschaft und diese hatte ihrerseits einen Haftbefehl gegen Wolfgang Müller beantragt und erhalten.
Nun observierten Goldstein und vier uniformierte Polizeibeamte am frühen Samstagmorgen das Haus, in dem Müller wohnte. Der Hauptkommissar hatte seinen Kollegen Schönberger nicht an dem Einsatz beteiligt. Schönberger sei urlaubsreif, hatte er diese Entscheidung seinem Chef gegenüber begründet. Deshalb sei es besser, wenn er über das Wochenende ausspannen könne. Das aber war nur die halbe Wahrheit. Tatsächlich war sich Goldstein nicht sicher, ob er Schönberger noch trauen konnte. Dessen Kontakte zu Bos, die gemeinsame Feier mit Müller und den anderen Gaunern – nein, diese Aktion wollte er ohne Schönberger abwickeln. Und Saborski war einverstanden gewesen.
Die Männer saßen in einem Zivilfahrzeug der Bochumer Kripo und parkten etwa einhundert Meter von ihrem Observationsobjekt entfernt. Ihr Einsatz war für sieben Uhr geplant.
»Ich habe mich gestern bereits umgesehen. Das Haus hat neben dem Eingang an der Vorderseite noch einen Hinterausgang«, klärte Goldstein die Polizisten auf. »Er führt auf den Hof.
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