Persilschein
Verteidigung.
Nachdem er auch seine Beine befreit hatte, durchsuchte er systematisch in völliger Dunkelheit den Raum. Wie er befürchtet hatte, war dieser leer. Müller drückte vorsichtig gegen den Tür. Sie war fest verschlossen. Wieder kämpfte er die aufsteigende Panik nieder. Denk nach, Konrad, sagte er sich. Es muss einen Weg geben. Es muss einfach!
Die Wände des Schuppens bestanden aus massivem Holz. Die würde er nicht durchbrechen können. Als Bodenbelag dienten Ziegelsteine. Steine? Eine Idee durchzuckte ihn. Kein Beton? Steine wurden in der Regel auf gestampftem Sand oder Asche verlegt. Darunter war nichts als Mutterboden. Wenn das auch hier der Fall war, hatte er eine Chance. Er bückte sich und suchte mit den Fingern die Fugen des letzten Steins vor der Holzwand. Dort begann er, mit dem Kamm zu kratzen. Es dauerte nicht lange, und der Ziegel war freigelegt. Konrad hebelte ihn hoch, legte ihn beiseite und wahrhaftig: Asche! Gott sei Dank. Festgedrückt zwar, aber kein Beton. Er stieß den Kamm in den Ascheboden. Problemlos ließen sich einige Brocken lösen. Müller arbeitete verbissen weiter. Die Ascheschicht war nur wenige Zentimeter dick und darunter stieß er, wie erhofft hatte, auf Erde. Schöne, lockere Erde.
Rasch waren weitere Steine entfernt und Müller begann zu graben. Erst mit dem Kamm, um die Asche zu durchstoßen, dann mit den Händen. Seine Fingernägel brachen und er kratzte sich die Kuppen blutig. Egal. Er wühlte sich in das Erdreich wie ein Maulwurf. Und endlich war ein Loch entstanden, das groß genug war, um hindurchzusehen.
Langsam schob er den Kopf nach vorn, blieb jedoch bereits mit den Schultern hängen. Irgendjemand hatte ihm erzählt, dass Ratten oder Mäuse, sobald ihr Kopf durch eine Öffnung passte, auch den Rest des Körpers hindurchpressen könnten. Er aber war keine Maus. Er musste weitergraben. Zügig und vor allem leise. Er buddelte um sein Leben.
Irgendwann hatte er das Zeitgefühl verloren. Jeden Moment konnten Pauly und sein Kumpan in den Schuppen zurückkommen. Er hatte nur diese eine Chance. Immer schneller schaufelten seine Hände das Erdreich beiseite, bis das Loch breit genug war. Er kroch hindurch.
Auf der anderen Seite der Bretterwand blieb er auf dem Bauch liegen. Ein unendliches Glücksgefühl durchströmte ihn. Er hatte es geschafft. Langsam rappelte er sich auf, sah sich um. Alles war ruhig. Im Osten zeigte sich bereits das Morgenrot. Gleich ging die Sonne auf. Mit einem Satz sprang er über den Gartenzaun und hastete Richtung Ausgang. Begann zu laufen. Rannte, ohne sich umzudrehen.
Die Menschen, die zur Frühschicht gingen, wunderten sich über den jungen Mann, der an ihnen vorbeilief. Völlig verdreckt, mit Blut an Händen und im Gesicht, laut lachend. Was die anderen dachten, war Konrad Müller völlig egal. Er wollte nur möglichst schnell weit weg von Pauly und dem Schuppen. Und nie mehr in eine solche Situation geraten.
45
Samstag, 14. Oktober 1950
Peter Goldstein war wütend. Auf Saborski, aber auch auf sich selbst. Warum hatte er es sich ohne Widerspruch gefallen lassen, dass der Kriminalrat die Einstellungen der Ermittlungen quasi angeordnet und ihn in eine Art Zwangs-urlaub geschickt hatte? Jetzt nachträglich bei Saborskis Vorgesetzten zu intervenieren, würde ihm nur unangenehme Fragen einbringen: »Weshalb haben Sie Ihre Bedenken denn nicht sofort geäußert, Herr Hauptkommissar? Wie erklären Sie sich den Bericht des Gerichtsmediziners, der zu völlig anderen Ergebnissen kommt als Sie?« Und am gravierendsten: »Welche Beweise haben Sie eigentlich?«
Nein, er musste eine Alternative finden. Weiter auf eigene Faust zu ermitteln war schwierig. Solange sein Urlaub andauerte, fand er zwar die Zeit dafür, aber was war später? Der Kriminalrat würde ihm sämtliche Aktivitäten, die im Zusammenhang zum Fall Müller standen, mit Sicherheit untersagen, sofern er keine neuen Anhaltspunkte für einen Mord liefern konnte. Widersetzte er sich, handelte es sich um ein Dienstvergehen und er könnte diziplinarisch zur Verantwortung gezogen werden. Das wollte er nicht riskieren. Er war einfach nicht zum Helden geboren.
Doch plötzlich kam ihm eine Idee: Wieso konnten nicht Dritte das übernehmen? Menschen, die ebenfalls von Berufs wegen ihre Nase in die Angelegenheiten anderer Leute steckten. Journalisten! Goldstein dachte an einen ganz bestimmten.
Der Kommissar half seinem Schwiegervater im Garten beim Umgraben eines der Beete, in dem
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