Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Sicherheit geben sollte und eventuell nicht gegeben hat.
Mein Mitarbeiter ist durch sein Versagen und die Versetzung und Zurückstufung verletzt und beschämt. Erträgt sein unbewusstes Selbst dies? Hat er es gelernt, solche Erlebnisse zu verarbeiten, oder gab es entsprechende frühe traumatische Erlebnisse mit seinen Eltern, insbesondere mit seinem Vater? Bin ich als Vorgesetzter sogar das Ebenbild seines strafenden und nichtverstehenden Vaters? Im Fall meines Sohnes gibt es den Konflikt zwischen Nähe und Distanz, zwischen Zuflucht zur Liebe des Vaters und der notwendigen Abnabelung. Mein Sohn hat den tiefen Wunsch, Musiker zu werden, was meinem Rat entschieden widerspricht. Er lehnt sich damit gegen mich als den Vater auf. Er mag ahnen, dass ich etwas in ihn hineinprojiziere, das er selbst gar nicht ist. Vielleicht will ich ihn vor etwas bewahren, das mir selbst als jungem Mann zu schaffen machte, oder mein Unbewusstes will verhindern, dass er das wird, was ich nicht werden konnte oder durfte!
Von diesen Vorgängen auf der mittleren und unteren limbischen Ebene erfahren die drei Personen nur sehr indirekt, nämlich indem sie das nicht ausführen, was man ihnen vernünftigerweise rät und was sie gegebenenfalls bewusst auch akzeptieren und wollen. Das bewusste sozial-emotionale Selbst ist zur Einsicht bereit, aber das unbewusste Selbst verweigert sich, weil es gekränkt ist, Angst hat usw. Man muss kein gläubiger Anhänger aller Bestandteile der Lehre Sigmund Freuds sein, um zu verstehen, dass diese unbewussten Antriebe und Motive dasjenige verkörpern, was letztlich den Ausschlag gibt. Verräterisch ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass meist ein kleiner Anlass genügt, um die Person vom Befolgen des vernünftigen Ratschlags abzubringen. Das unbewusste Selbst protestiert, will dieses Befolgen nicht und wartet nur auf den Anlass, um loszuschlagen. Später wird dem Betroffenen sein eigenes Verhalten übertrieben oder gar rätselhaft vorkommen.
Zusammengefasst sehen wir also, dass »Verstehen« ganz unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Zum einen haben wir jemanden verstanden, wenn wir das, was er sagte, akustisch-phonologisch und syntaktisch korrekt vernommen haben. Dies versetzt uns in die Lage, in irgendeiner konventionellen Weise korrekt zu antworten. Zum zweiten haben wir jemanden verstanden, wenn wir erfassen, was er meinte , wenn wir also die vorgebrachten Gründe und Argumente in Hinblick auf die üblichen gesellschaftlichen Regeln der Begründung von Handeln nachvollziehbar finden. Wir billigen ihm dann zum Beispiel ehrliches Bemühen zu.
Zum dritten heißt verstehen die tief liegenden Gründe des Verhaltens erfassen, d. h. identifizieren, was die Person in ihrem unbewussten Selbst antreibt. Diese dritte Möglichkeit des Verstehens wird nur über das Registrieren der sprachlichen Emotionalität, der nichtsprachlichen kommunikativen Signale und natürlich insbesondere der Art und Weise, wie sich die Person verhält, erreicht. Dies ist naturgemäß eine sehr schwierige Aufgabe und Kunst, und deshalb ist es so schwer, andere zu verstehen.
KAPITEL 13
Über die grundlegende Schwierigkeit, sich selbst zu verstehen
»Erkenne dich selbst!« war der Wahlspruch des griechischen Philosophen Sokrates, aber er hat dies – wie viele andere kluge Menschen – für eine sehr schwierige Forderung gehalten, vielleicht die schwierigste überhaupt. Entsprechend meinte Wilhelm von Humboldt: »Ich halte die Selbsterkenntnis für schwierig und selten, die Selbsttäuschung dagegen für sehr leicht und gewöhnlich.« Andere kluge Menschen haben von der Suche nach Selbsterkenntnis geradezu abgeraten, so auch Johann Wolfgang von Goethe, der – etwas überraschend für diesen vollendeten Selbstdarsteller – sagte: »Man hat zu allen Zeiten wiederholt, man solle danach trachten, sich selbst zu erkennen. Dies ist eine seltsame Forderung, der bisher niemand genüget hat und der auch niemand genügen soll.«
Was ist an der Selbsterkenntnis so schwierig? Eigentlich sollte sie ganz einfach sein, wenn man von der unter Philosophen weit verbreiteten Annahme ausgeht, dass man zu seinem eigenen Ich einen »privilegierten Zugang« hat: »Nur ich weiß mit Sicherheit, was in meinem Kopf vorgeht!« Das ist in einem trivialen Sinn richtig. Ich führe zum Beispiel ein schwieriges Gespräch mit einem einflussreichen Menschen, und nur ich weiß, welche Gedanken dabei in meinem Kopf kreisen, und das ist sicher gut
Weitere Kostenlose Bücher