Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
so. Allerdings wird ein sehr erfahrener Menschenkenner und Beobachter mehr davon erraten können, als mir lieb ist.
Ich kann natürlich über mich nachdenken und feststellen, wie ich mich fühle (unsicher, freudig, ängstlich). Ich kann wie in dem Gespräch mit dem einflussreichen Menschen ein doppeltes Spiel spielen, indem ich äußerlich freundlich und verbindlich bin, und innerlich denke »du blöder Kerl, dir werde ich’s zeigen!«, und erst einmal weiß nur ich von dem doppelten Spiel. Das bleibt aber immer an der Oberfläche des Selbsterkennens. Jeder Versuch, die wahren eigenen Motive zu ergründen, d. h. die Frage zu beantworten, warum ich so und nicht anders gehandelt habe oder warum ich mich vor einem bestimmten Ereignis ängstige, das objektiv gar nicht bedrohlich ist, warum ich jetzt zornig oder entmutigt bin, zuversichtlich oder depressiv – all dies führt meist zu nichts. Es war bereits davon die Rede, dass das eigene Ich sich verflüchtigt, wenn man nach ihm sucht. Andere kluge Menschen sagen, das Ich sei »undurchdringlich«, man könne nicht dahinter blicken. Es ist wie der Selbstanblick im Spiegel: Ich sehe mich und meine Welt, aber wenn ich nach der Welt hinter dieser Welt suche, so ist da nichts.
Manche Forscher, zu denen auch die amerikanischen Behavioristen gehörten (vgl. Exkurs 3), leiten daraus den Schluss ab, dass dahinter in der Tat nichts ist. Das Ich ist für sie ein Konglomerat von Zuständen, die in einem Netzwerk per Konditionierung (plus selbstorganisierenden ordnungsbildenden Prozessen, würde man heute sagen) entstehen und sich über weitere Netzwerkeigenschaften aufeinander beziehen. Hinter diesem Netzwerk ist nichts weiter verborgen – alles verbleibt in derselben funktionalen Ebene, und deshalb ist es auch nicht hintergehbar. Das Netzwerk bestimmt unsere Gedanken, unsere Äußerungen und unsere Handlungen. Es gibt keine tiefere (oder übergeordnete) Ebene, die dieses Netzwerk steuert. Das wäre so, als wollte ich in meinem Computer hinter der Ebene der rein nachrichtentechnischen »Informationsverarbeitung« des Prozessors noch eine Bedeutungsebene vermuten oder hinter dem Mechanismus des Kühlschranks in meiner Küche den Willen , die in ihm verwahrten Speisen auf 5 Grad zu halten.
Gespeist wurde diese Auffassung durch die Annahme, Verhalten ließe sich durch die drei Schritte Informationsaufnahme, Informationsverarbeitung und Informationsabgabe (oder Perzeption, Kognition, Motorik) vollständig erklären. Diese Annahme ist aber falsch, wie wir bereits gesehen haben. Hinter dem, was man im Gehirn als Informationsverarbeitung bezeichnen kann, zum Beispiel bei der visuellen Objektwahrnehmung, gibt es die Bedeutungsebene, auf der nicht nur gefragt wird »Was ist das?«, sondern »Was bedeutet das für mich ?«. Diese Bedeutungsebene gliedert sich, wie dargestellt, in eine bewusste und eine unbewusste, eine rationale und eine emotionale, eine soziale und eine individuelle Achse auf.
Die unbewussten Anteile unserer Existenz sind diejenigen, die zuerst entstehen und die wichtigeren sind. Zugleich sind sie dem Bewusstsein nicht zugänglich: Wir können per definitionem nicht bewusstseinsmäßig in das Unbewusste eindringen. Allerdings haben wir früher gesagt, dass Affekte und Gefühle in den unbewussten, subcorticalen Teilen des Gehirns entstehen – aber wir fühlen sie doch bewusst, und damit sind wir doch offensichtlich in der Lage, sie zu ergründen! Ist dies nicht ein Widerspruch?
Nein, denn was wir bewusst fühlen, geht auf die Erregungen zurück, die in der Großhirnrinde aufgrund derjenigen Einwirkungen entstehen, die von den subcorticalen Zentren wie der Amygdala oder dem mesolimbischen System stammen. Es sind also nicht die Erregungen der Amygdala oder des Nucleus accumbens selbst, sondern die Lesarten , die der Cortex daraus herstellt. Die eigentlichen Nachrichten der subcorticalen limbischen Zentren sind in Worten nicht zu fassen, sie sind sprach-los . So könnten Erregungen der Amygdala ein sprachloses Zeichen für die Aussage sein »Nimm dich in Acht, das ist gefährlich!«, und die Großhirnrinde macht daraus das benennbare Gefühl der Furcht. Oder der Nucleus accumbens signalisiert »Das ist positiv, das mach noch einmal!«, und wir fühlen und berichten den Drang, etwas Bestimmtes zu machen. Was in der Großhirnrinde also als bewusste Gefühle oder als Motive entsteht, sind Interpretationen der Erregungen aus den unbewusst arbeitenden limbischen Zentren auf
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