Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
als man meint. Dabei kann es passieren, dass die betroffene Person diesen Widerspruch bei sich bewusst empfindet, ja sogar darunter leidet. Mein Freund geht nachdenklich nach Hause und ist gewillt, seiner Ehe noch eine Chance zu geben, aber bei dem anfangs ganz vernünftig verlaufenden Gespräch mit seiner Frau fällt auf der einen oder anderen Seite ein ungeschicktes Wort, und man geht endgültig im Streit auseinander. Ebenso zeigt mein Mitarbeiter Einsicht und tritt entsprechend seinen neuen Arbeitsplatz im Innendienst an, wird aber von einer hämischen Bemerkung seiner bisherigen Kollegen vom Außendienst so gekränkt, dass er den Job hinschmeißt und doch kündigt. Oder mein Sohn ist nachdenklich geworden und will nun doch erst sein Studium abschließen, wird dann aber von seinen Musikerkumpeln als Feigling beschimpft und gibt ihnen nach.
Es kann schließlich auch passieren, dass es zu solch »irrationalem« Verhalten (Trennung, Kündigung, vorzeitige Beendigung des Studiums) kommt, obwohl der Betroffene es gar nicht wollte. Irgendetwas scheinbar Unbeabsichtigtes passiert, das dann das »irrationale« Verhalten erzwingt. Mein Freund kriegt plötzlich einen Job in einer anderen Stadt angeboten, nimmt ihn an, und die damit verbundene räumliche Trennung von seiner Frau führt über kurz oder lang zur Auflösung der Beziehung. Mein Mitarbeiter wird ernsthaft krank, bevor er umgesetzt werden kann, und entzieht sich damit der – aus seiner Sicht – Schande der Rückstufung. Mein Sohn schließlich setzt (fiktiv) einige Klausuren in den Sand oder vergisst eine wichtige Prüfung, und damit schwinden seine Aussichten auf ein gutes Examen, und er schließt sich seinen Musikerkumpeln doch an.
Wir können mithilfe des Vier-Ebenen-Modells, das ich im vierten Kapitel (S. 90 – 95) dargestellt habe, diese Zusammenhänge gut erklären. Auf der kognitiv-kommunikativen Ebene findet das Erfassen der Nachricht im akustisch-phonologischen, syntaktischen und semantischen Sinne statt. Man hat die alltägliche Bedeutung des Gesagten begriffen und kann sie gegebenenfalls korrekt wiedergeben. Dies ist auch die Ebene der Erklärungen und Gegenerklärungen im alltäglichen Sinne, d. h. mit den üblichen verbalen Mitteln. Ich schildere auf dieser Ebene meine Sichtweise möglichst objektiv meinen Gesprächspartnern, und sie werden mir zu verstehen geben, dass sie verstanden haben, was ich sagen will. Sie werden meine Argumente respektabel, erwägenswert und gut gemeint finden, werden sogar aus Höflichkeit ein gewisses Verständnis äußern. Dies alles geschieht aber »unemotional« – man denkt sich seinen Teil, und es bleibt in der Regel ohne irgendwelche praktische Folgen.
Die obere limbische Ebene ist die Ebene der emotionalen Betroffenheit: Mein Freund ist durch meine Worte tief bewegt, ihm kommen die Tränen, er ist wirklich davon überzeugt, dass ich für ihn das Beste will, und drückt dies auch aus. Er wird mit seiner Frau sprechen und sehen, was in seiner Ehe zu reparieren ist. Der Mitarbeiter äußert entweder Verständnis für meine Entscheidung, ihn zu versetzen, oder er geht emotional zum Gegenangriff über und beschuldigt mich und seine Kollegen des falschen Spiels. Mein Sohn schließlich fasst auf meine Worte hin den Entschluss, sein Studium fortzusetzen, oder er macht mir Vorhaltungen, ich hätte mich nicht genügend um sein Talent und seine Zukunft gekümmert. Alle drei und ich spielen das Spiel der sozial-emotionalen Argumente und Gegenargumente. Die Kommunikationspartner sind bewegt – es fragt sich nur, in welche Richtung sie sich bewegen. Meist nicht in die Richtung, die ich mir wünsche.
Was die drei Personen aber letztlich tun, wird von der unteren und mittleren limbischen Ebene , also der Ebene des Temperaments und der frühen emotionalen Konditionierung, bestimmt. Hier geht es um die unbewussten Antriebe, Defizite, Sehnsüchte und Ängste. Es kommt darauf an, welche Bindungsperson mein Freund in seiner Frau erkennt. Stärkt sie sein Selbst, schwächt sie es? Kann sich dieses Selbst in der Partnerschaft stabilisieren, kann es Schwächen ausgleichen, die von der eigenen frühkindlichen Bindungserfahrung herrühren, oder werden negative Bindungserfahrungen wachgerufen oder gar verstärkt? Es muss dabei gar nicht so sein, dass mein Freund in seiner Frau nur seine eigene Mutter sieht – vielmehr war seine eigene Mutter die Instanz, die seinem unbewussten Selbst zur Reife verhelfen, ihm dafür die nötige
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