Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
eindringen können. Was wir erfahren können, ist das, was unser Vorbewusstsein unserem Bewusstsein als Deutungsmaterial zur Verfügung stellt. Das Vorbewusstsein ist, für uns ebenfalls nicht erfahrbar, seinerseits teils in der Hand des Unbewussten, teils hat es eine bestimmte Autonomie. Um bei dem obigen
Beispiel zu bleiben: Wir machen uns immer einen Reim auf
dasjenige, was uns der Übersetzer sagt, und können niemals verlässlich herauskriegen, was er seinerseits, für uns unsichtbar und unhörbar, mit dem Häuptling in der Hütte beredet hat. Wir wissen nicht einmal, ob es in der Hütte überhaupt einen Häuptling gibt. Im Zweifelsfalle zahlen wir zähneknirschend die beträchtliche Summe und werden nie erfahren, ob wir mit einem blauen Auge davon gekommen sind oder hereingelegt wurden.
Natürlich können wir einwenden, dass ein sehr kluger Beobachter aus den Worten und dem Verhalten des Übersetzers doch einige Rückschlüsse ziehen kann. Gilt dies auch für die Selbstbeobachtung? Immerhin beobachten wir an uns selbst, dass wir eine Abneigung gegen bestimmte Personen und Situationen fühlen, dass wir merkwürdige Angewohnheiten, Ängste und Obsessionen haben. Wir stufen uns selbst als gewissenhaft oder nachlässig ein, als ungeduldig oder geduldig, verschlossen oder offen, zufrieden oder unzufrieden. Ein großer Teil der Persönlichkeitspsychologie beruht schließlich auf der Methode der Selbstauskunft: Menschen werden danach gefragt, ob sie glücklich oder unglücklich, zufrieden oder unzufrieden sind, und es wird nicht (oder nur in krassen Ausnahmen) danach geforscht, ob diese Selbstauskunft wirklich stimmt.
Nun kann man sich darüber streiten, wie oft ein Mensch im Grunde seines Herzens unglücklich ist, aber auf dem Fragebogen »glücklich« ankreuzt. Diese Selbsteinschätzung wird schon irgendwie stimmen (es gibt schließlich kein »objektives Glücklichsein!«), ebenso die Antwort auf die Frage, wie häufig und für wie lange die befragte Person im vergangenen Jahr depressiv gestimmt war, insbesondere wenn die Befragung
anonymisiert ist. Darum geht es aber bei der Selbsterkenntnis letztlich nicht, sondern um die Frage, warum jemand unglücklich, unzufrieden oder depressiv ist. Dies werden die meisten Menschen nicht beantworten können, denn die Antwort auf diese Frage ist auf einer Ebene angesiedelt, die auch durch intensives Nachdenken über sich selbst nicht erreichbar ist, nämlich auf der unteren und mittleren limbischen Ebene.
Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis
Eine kluge Person sagte, die Intelligenz des Menschen werde nur noch durch seine Fähigkeit zur Selbsttäuschung übertroffen. Diese beiden Fähigkeiten haben wenig bis nichts miteinander zu tun – es gibt dumme Menschen, die sich relativ gut einschätzen, und hochintelligente Menschen, die ein Bild von sich haben, das aus Sicht von Außenstehenden grundlegend falsch ist. Natürlich ist dieses Letztere gehäuft in solchen Bereichen zu finden, wo es um Ehrgeiz, Wettbewerb und Selbstdarstellung geht, also in den höheren Etagen von Politik, Wissenschaft, Kunst, Kultur und Wirtschaft.
Beruflicher Erfolg korreliert nun einmal in einem hohen Maß mit einem starken Glauben an die eigenen Kräfte, bis hin zur Selbstüberschätzung. Ohne die Überzeugung »Ich werde das schon schaffen!« erreicht man wenig bis nichts, und dazu gehört, dass selbstkritische Stimmen oder gar Selbstzweifel nicht zu laut werden. Viele sozialpsychologische Untersuchungen haben ergeben, dass dies ein typisch männliches, dominant-aggressives Verhalten ist, das sich neurobiologisch gesehen auf der Grundlage einer Kopplung von Testosteron und Dopamin vollzieht. Der Hang zur Selbstdarstellung bis hin zur völligen Selbstüberschätzung junger Männer lässt sich auf jedem wissenschaftlichen Kongress feststellen, auf dem – wenngleich in deutlicher Minderzahl – auch junge Frauen auftreten. Während junge Frauen Kritik durchaus akzeptieren (»Gut, man kann dies eventuell auch so sehen!«) oder sich sogar verunsichert fühlen und sich dann »zurücknehmen«, reagieren junge Männer auf Kritik oft aggressiv und auftrumpfend. Selbstverständlich zeigen sich diese Unterschiede auch in späteren Lebensjahren, aber dann ist der »Kampf« der Männer viel ritualisierter, und allein schon die berufliche Stellung bzw. Machtposition des Vortragenden schüchtert mögliche Kritiker ein.
Ehrgeiz und Machthunger sind wichtige Quellen der Selbsttäuschung, Versagen und
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