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Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Titel: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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meinem sozialen Selbst. Zuerst glaube ich im (bewussten) Innern meines Herzens an diese Selbst-Interpretation, dann formuliere ich sie so, dass auch die anderen daran glauben oder zumindest damit leben können.
    Es ist außerordentlich schwer, diesem Zwang zur Selbsttäuschung entgegenzuwirken. Die größten Männer (eben meist Männer!) der Geschichte sind diesem Zwang erlegen, wie ihre Autobiographien beweisen, die in aller Regel Selbstrechtfertigungen sind. Gescheitert sind sie in diesen Autobiographien aus eigener Sicht meist an den Umständen, nicht an eigenen Fehlern oder eigenem Unvermögen. In der Regel drängen nur Menschen mit einem narzisstischen Selbst nach Macht und Ruhm, während Menschen mit einem in sich ruhenden Selbst sich höchstens zu bestimmten herausragenden Positionen drängen lassen und diese bereitwillig wieder aufgeben. Sie unterscheiden sich relativ verlässlich von Ersteren dadurch, dass sie anschließend keine Autobiographien schreiben oder pausenlos in Talk-Shows auftreten, sondern sich dem widmen, was ihnen wirklich Spaß macht oder was von ihnen erwartet wird.

Selbsttäuschungen besonderer Art
     
    Das soeben Gesagte kann auch an (im engeren Sinne) krankhaften Selbsttäuschungen veranschaulicht werden. Dabei geht es nicht nur um psychotische, d. h. von der Realität abgekoppelte Zustände bei Schizophrenen, die unter Verfolgungswahn als Opfer einer Weltverschwörung oder unter Größenwahn leiden – sie halten sich für Napoleon oder den Kaiser von China –, oder unter Kontrollwahn, weshalb sie der Überzeugung sind, allein mit ihren Gedanken ihre Umgebung oder den Verkehr beeinflussen zu können. Vielmehr trifft man fundamentale Selbsttäuschungen auch bei Patienten mit neurologischen Störungen an, die etwa behaupten, ihr Arm sei ihnen über Nacht angenäht worden und bewege sich jetzt unter fremder Kontrolle, oder sie steckten im falschen Körper. Es gibt sogar Leute, die von sich behaupten, sie seien tot bzw. wandelnde Leichname, und darauf bestehen, beerdigt und aus dem Einwohnerregister gelöscht zu werden.
    Andere Leute haben sensorisch-kognitive Defizite, leugnen diese aber (vgl. Kolb und Wishaw, 1993). Diese Krankheit nennt man Anosognosie (A-noso-gnosie, d. h. die Unfähigkeit, aus-gedrückt durch die Vorsilbe »A«, eine Krankheit, griechisch »nosia«, zu erkennen, griechisch »gnosein« oder »gnosia«). Sie nehmen zum Beispiel Geschehnisse in der (meist) linken Gesichtshälfte nicht bewusst wahr, leugnen dies aber und erfinden Geschichten, um entsprechende Fehlleistungen zu erklären. Andere nehmen ihre linke Körperhälfte nicht wahr und vernachlässigen sie (Männer rasieren sich zum Beispiel nicht in der linken Gesichtshälfte), leugnen dies aber hartnäckig. Wieder andere können aufgrund bestimmter Hirnläsionen bestimmte Objekte nicht erkennen (so genannte Objekt-Agnosie) und schieben dies auf die schlechten Lichtverhältnisse oder ihre schlechte Brille.
    All dies beruht auf der erstaunlichen Tatsache, dass die un- bzw. vorbewussten Zentren des Gehirns diese Defizite durchaus registrieren, sie aber nicht an das Bewusstsein weitergeben und das sprachliche Gehirn zu »Erklärungen« veranlassen, die der Außenstehende für abenteuerlich bis völlig absurd ansieht (dass einem Patienten über Nacht ein kompletter Arm entfernt und eine neuer angenäht wurde, ist ebenso unwahrscheinlich wie der Umstand, dass er der Kaiser von China oder Napoleon ist). Im Falle des Arms liegt der Grund im Fehlen der sensorischen Rückmeldung zum Gehirn, was das Gefühl des »Nichtdazugehörens« und des Kontrollverlustes erzeugt. Zum Glück kann dieser Zustand oft durch Training beseitigt werden. Im Falle des Nichtbeachtens des linken Gesichtsfeldes oder der linken Körperhälfte liegt nach gegenwärtiger Ansicht ein Schaden im räumlichen Aufmerksamkeitssystem vor, das im hinteren Parietallappen bzw. im hinteren Frontallappen angesiedelt ist. Der Fall der »wandelnden Leichen« ist rätselhaft; hier muss ein fundamentaler Schaden derjenigen Zentren des Parietallappens vorliegen, die für das Körperschema und seinen Bezug zum Ich-Gefühl verantwortlich sind.
    Diese Schädigungen – so erkennt das Unbewusste – sind nicht oder nicht schnell zu reparieren, und deshalb muss sich das Gehirn damit abfinden, indem das bewusste Selbst sich seinen Reim darauf macht. Es ist dabei meist völlig unmöglich, diese Patienten von ihrem Irrtum zu überzeugen, denn sie fühlen ja ganz direkt, dass

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