Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Niederlagen noch wichtigere. Hier geht es darum, eine tiefe Verwundung, die durch Fehlleistungen, Niederlage und Beschämung hervorgerufen wurde, derart zu kompensieren, dass das unbewusste Selbst damit fertig wird. Die oft belächelte Tatsache, dass es nach vielen politischen Wahlen nur Sieger gibt, ist noch die harmloseste Variante dieses Vorgangs. Das Nichterreichen eines wichtigen Ziels, z. B. Betriebsleiter, Vorstandsmitglied, Ordinarius, Präsident oder Bundeskanzler zu werden, oder der Verlust eines solchen »Jobs« müssen weg-erklärt werden, sonst droht die nackte Verzweiflung. Natürlich gäbe es die Möglichkeit, sich zu sagen: »Niederlagen gehören nun einmal zum Machtspiel«, aber dies beruhigt höchstens das bewusste emotionale Selbst. Unser unbewusstes emotionales Selbst, das Kleinkind in uns, wollte ja aus Macht und Erfolg (bzw. deren Fortdauer) diejenige Befriedigung saugen, die es für die Selbststabilisierung benötigt. Und jetzt wird diese (potenzielle) Lustquelle weggenommen.
Eine Möglichkeit besteht in der kognitiven und bewusst-emotionalen Selbstberuhigung . Der entgangene oder verlorene Job war nicht eigentlich ein Herzenswunsch, sondern man hat seine Pflicht getan, und das ist jetzt zum Glück zu Ende. Oder man ist bloß dem Ruf der Freunde gefolgt und wollte nur seine Pflicht tun – und schließlich hat man seinen guten Willen gezeigt. Es gibt auch Wichtigeres im Leben. Allerdings beruhigt diese Strategie das unbewusste limbische Selbst nicht oder nur wenig, die Verwundung bleibt. Man schreibt dann wehmütige Autobiographien oder sucht Ersatz-Jobs.
Eine andere Möglichkeit besteht in der Schuldzuweisung: Der Gegner hat unfaire oder gar illegal-unmoralische Mittel angewendet, es hat an Loyalität der eigenen Reihen gefehlt; Dinge, die nicht zu beeinflussen waren, sind einfach schlecht gelaufen (z. B. eine Wirtschaftskrise), die Findungskommission war inkompetent. Diese Strategie ist besser, denn sie ermöglicht es dem Selbst der betroffenen Person, die durch die Niederlage erzeugten Energien von sich auf andere Objekte umzulenken und sogar nutzbar zu machen. Man kann sich reinwaschen, weil man das Opfer finsterer Intrigen oder starker Gegenkräfte war, und sich im Kampf dagegen neu aufbauen.
In der Wissenschaft (und natürlich nicht nur dort) kann die eigene Erfolglosigkeit groteske Blüten treiben. Grundsätzlich haben die erfolgreicheren Konkurrenten die eigenen Ideen geklaut, und deshalb stellt man auch keine Forschungsanträge mehr, weil die Kommissionen von diesen Konkurrenten beherrscht werden. Es gibt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Wissenschaftlern, denen auf diese Weise angeblich Nobelpreise entgangen sind. Eine andere Möglichkeit besteht darin, die eigene Einfallslosigkeit dadurch zu kaschieren, dass man immer mehr Gelder fordert (»Es ist klar, dass ich das und das nicht erforschen kann, wenn ich nicht noch diese Mittel oder Apparate kriege!«). Damit kann man sich über manche Jahre hinwegretten. Schließlich greift man zu wissenschaftlichem Betrug (sofern man intelligent und skrupellos genug ist) oder man erfindet einfach Ehrungen, Titel oder Rufe – zumindest für Gesprächszwecke. Wenn das alles nicht klappt, dann bleibt die Rolle des genialen, aber verkannten Forschers. Bei Künstlern ist dies natürlich nicht anders. Vieles von dem ist nur deshalb möglich, weil es durchaus reale Fälle gibt, in denen hervorragende Wissenschaftler, Politiker oder Künstler durch gemeine Intrigen, Kollegenneid, Schlamperei oder ungünstige Situationen am Erfolg gehindert wurden. Was liegt näher, diese Möglichkeit zur Entschuldigung für sich selbst zu benutzen.
Das Prinzip ist dabei immer dasselbe: Das limbische Unbewusste erträgt die Verwundung nicht – und dies umso weniger, je schwächer es sich in Kindheit und Jugend entwickelte. Es variiert die bewussten Motive und Erklärungsmuster so lange, bis die Verwundung halbwegs erträglich ist. Dasselbe geschieht mit allen anderen unbewussten störenden Antrieben und quälenden Wünschen. Unser unbewusstes Selbst hat auf der Ebene des Bewusstseins für Plausibilität zu sorgen, deshalb werden Störungen korrigiert, indem Vorstellungen, Absichten und Wünsche so lange verändert und verbogen werden, bis sie ein rundes Bild ergeben – ein Bild, das uns ein subjektiv befriedigendes Fühlen und Handeln ermöglicht. Rund muss das Bild im ersten Schritt vor meinem bewussten egoistischen Selbst sein und im zweiten Schritt vor
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