Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten
Viertens gehören alle Vorgänge der Wahrnehmung, der kognitiven Verarbeitung und der Gefühle dazu, die im Gehirn des Ungeborenen, des Säuglings und des Kleinkindes ablaufen, bevor der bewusstseinsfähige assoziative Cortex ausgereift ist. Das ist in der Regel im dritten bis vierten Lebensjahr der Fall. Hier mag es allerdings sein, dass einiges oder gar vieles davon bewusst erlebt, aber später nicht mehr erinnert wird. Sigmund Freud nannte dies »infantile Amnesie«, d. h. »frühkindlichen Gedächtnisverlust«.
Fünftens gehören zum Unbewussten alle Inhalte des Fertigkeitsgedächtnisses, also des prozeduralen Gedächtnisses, welches alles enthält, was wir beherrschen, ohne dass wir berichten könnten, wie wir es machen, z. B. Fahrradfahren, Klavierspielen, eine Krawatte oder die Schnürsenkel zubinden. Zumindest brauchen wir, sofern dies alles richtig eingeübt ist, kein Bewusstsein mehr von den Details. Sechstens gehören dazu alle Inhalte des Erfahrungsgedächtnisses, die zusammen die Grundstruktur unseres Charakters und unserer Persönlichkeit bestimmen und die in Bereichen des Gehirns angesiedelt sind, die unserem Bewusstsein nicht zugänglich sind. Auch diejenigen Mechanismen, die festlegen, was in welcher Weise in diesem Gedächtnis abgelegt wird, laufen völlig unbewusst ab und können nicht willentlich beeinflusst werden.
Wir können aufgrund dieser Informationen die Frage gut beantworten, was wir alles ohne Bewusstsein tun können: Wir können neue Dinge und Vorgänge wahrnehmen, sofern diese nicht zu kompliziert sind; zudem sortiert unser Wahrnehmungssystem die Inhalte vor. Wir können komplizierte Dinge tun, sofern sie stark eingeübt sind. Wir können sogar Dinge unbewusst lernen, indem wir sie immer und immer wieder erfahren. Wir wissen dann gar nicht, wieso wir können, was wir können. Wir haben Gefühle, Wünsche und Motive, die aus dem Unbewussten kommen und uns antreiben, und meist wissen wir gar nicht, warum. Insbesondere ist unserem Bewusstsein alles verschlossen, was vor der Geburt und in der ersten Zeit nach der Geburt auf uns einwirkte – so wichtig es auch gewesen sein mag. Wir sehen, dass das Unbewusste viel umfassender ist als das Bewusstsein und uns in unserem Handeln in den alltäglichen, aber auch in den ganz entscheidenden Dingen unseres Lebens stärker bestimmt als das Bewusstsein.
Das Vorbewusstsein
Einen interessanten Übergang zwischen Bewusstsein und dem Unbewussten bildet das Vorbewusste . Dieses Vorbewusste umfasst alle Inhalte, die einmal bewusst waren und aktuell zwar unbewusst sind, aber schnell und zum Teil gezielt ins Bewusstsein geholt werden können, zum Beispiel durch aktives Erinnern oder aufgrund bestimmter Hinweisreize. Ich will am Automaten Geld von meinem Konto abheben und erinnere mich in diesem Augenblick (hoffentlich) an die Geheimnummer; ich werde in einer Prüfung oder in einem Gespräch nach etwas gefragt, und es fällt mir (hoffentlich) sofort ein. Ich lese einen bestimmten Namen, und da fällt mir ein, dass ich einer Person gleichen oder ähnlichen Namens unbedingt eine Nachricht schicken muss. Kurz zuvor waren diese Inhalte nicht in meinem Bewusstsein, manche Dinge fallen spontan ein, und manche Dinge kann ich auch gar nicht aus meinem Bewusstsein verdrängen (z. B. bestimmte Dinge, die mir Sorge machen).
Das Vorbewusstsein stellt also einen riesigen Vorrat an möglichen Bewusstseinsinhalten dar und ist in diesem Sinne identisch mit meinem sprachlich zugänglichen, d. h. deklarativen Gedächtnis. Ob und wie leicht etwas vom Vorbewussten ins Bewusstsein dringt, hängt zum einen von der Art ab, wie dieser Inhalt über den Hippocampus im vorbewussten deklarativen Gedächtnis gespeichert ist, aber auch von bisher wenig verstandenen Kräften, die als »Zensoren« wirken und den Aufruf von Bewusstseinsinhalten kontrollieren wie auch das Gegenteil, nämlich das Verhindern eines solchen Aufrufs, das Sigmund Freud »Verdrängung« genannt hat.
Zusammengefasst können wir insgesamt drei Zustände geistig-psychischer Inhalte unterscheiden, nämlich solche, die aktuell bewusst sind, dann solche, die unter bestimmten Umständen bewusst werden oder willentlich bewusst gemacht werden können (die Inhalte des Vorbewussten), und schließlich solche, die niemals bewusst oder bewusst gemacht werden können.
Wie, wann und wo entsteht im Gehirn das Bewusstsein?
Bewusstsein ist nach traditioneller philosophischer Auffassung etwas »rein Geistiges«, und
Weitere Kostenlose Bücher