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Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten

Titel: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Roth
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Funktionalisten waren ebenso wie die Behavioristen der Überzeugung: Selbst wenn letztlich alle mentalen Prozesse neuronal im Gehirn verankert sind, so ist die Kenntnis dieser Verankerung völlig irrelevant. Die kognitive Psychologie hat sich entsprechend mit der Informationsverarbeitung im Bereich der Symbole, Regeln, Überzeugung, nicht aber mit deren physiologischen Grundlagen zu befassen.

Erziehungsoptimismus als »Staatsreligion«
     
    In Deutschland ergab sich eine paradoxe Situation dadurch, dass sich erst gegen Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, als der Behaviorismus in den USA bereits vom »Kognitivismus« abgelöst wurde, in der Biologie und der Psychologie behavioristisches Denken langsam gegen traditionell »nativistische«, d. h. von einer Dominanz angeborener Faktoren ausgehende Vorstellungen durchsetzte. Die durch Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen begründete Instinktlehre wurde noch bis weit in die siebziger Jahre neben Lorenz durch seine Schüler wie Wolfgang Wickler, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Paul Leyhausen und Bernhard Hassenstein weitergeführt und übte einen außerordentlich starken Einfluss auf alle Bereiche des intellektuellen Lebens einschließlich des Bereichs von Schule und Bildung aus. Hierbei wurde entsprechend ein konservatives didaktisch-pädagogisches Grundkonzept vertreten, das den Hauptakzent auf Intelligenz und Begabung als genetisch weitgehend festgelegte Phänomene legte und einen »Bildungspessimismus« vertrat.
    In zeitlichem und wohl auch ideologischem Zusammenhang mit dem politischen Wechsel Mitte der sechziger Jahre und dem Beginn der ersten Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung kam es zu einem langsamen und sich dann beschleunigenden Wandel hin zu einer »Behaviorisierung« und »Soziologisierung« der Psychologie und der pädagogischen Wissenschaften. Am deutlichsten abzulesen ist dieser Wandel in dem berühmten, 1969 publizierten Band Nr. 4 »Begabung und Lernen« innerhalb der Gutachten und Studien der Bildungskommission, die im Auftrag des Bildungsrates seit 1966 tätig war.
    Dieser Bildungsrat hatte den Auftrag, Empfehlungen für die Entwicklung und Reform des als veraltet angesehenen deutschen Bildungssystems zu entwickeln. Im Vorwort zu dem von meinem Namensvetter Heinrich Roth herausgegebenen Band wird programmatisch die Frage gestellt: »Wie ist in der Lernentwicklung des jungen Menschen das Verhältnis von naturgegebener Anlage und menschlicher Einwirkung durch Umwelteinflüsse und veranstaltete Lehr- und Lernvorgänge zu sehen?« Und die Antwort darauf lautete: »Das Verhältnis dieser beiden Faktoren lässt sich nicht auf eine einfache Formel bringen, es ist nicht eindeutig fixierbar… Gesichert steht jedoch die negative Feststellung, dass die vorweg gegebenen psychischen Naturfaktoren wie Erbe und Reifung nicht den Grad von determinierender Bedeutung für die Begabungsentwicklung besitzen, der ihnen landläufig zugemessen wird, und dass umgekehrt demgegenüber den vom Menschen beeinflussbaren oder von ihm gesteuerten Einwirkungen durch Umwelt und schulisches Lernen ein für jede praktische Orientierung größeres Gewicht zukommt.«
    In dem von Heinrich Roth geschriebenen Teil »Einleitung und Überblick« wird denn auch in aller Klarheit einem neuen Begriff von Lernen und Begabung das Wort geredet: »Man kann nicht mehr die Erbanlagen als wichtigsten Faktor für Lernfähigkeit und Lernleistungen (= Begabung) ansehen, noch die in bestimmten Entwicklungsphasen und Altersstufen hervortretende, durch physiologische Reifevorgänge bestimmte Lernbereitschaft. Begabung ist nicht nur Voraussetzung für Lernen, sondern auch dessen Ergebnis. Heute erkennt man mehr als je die Bedeutung der kumulativen Wirkung früher Lernerfahrung, die Bedeutung der sachstrukturell richtigen Abfolge der Lernprozesse, der Entwicklung effektiver Lernstrategien, kurz: die Abhängigkeit der Begabung von Lernprozessen und die Abhängigkeit aller Lernprozesse von Sozialisations- und Lehrprozessen.«
    In bemerkenswerter Weise hebt Roth in seiner Einleitung diesen neuen Lehr- und Lernoptimismus hervor und drängt die Bedeutung genetischer Faktoren bei Intelligenz und Begabung und fest vorgegebener kognitiver Entwicklungsstufen im Sinne des berühmten Biologen und Entwicklungspsychologen Jean Piaget zurück, oft auch unter erheblicher »Korrektur« der Aussagen der in diesem Band zu Wort kommenden Gutachter, die keineswegs alle einem strikten Bildungsoptimismus

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