Personenschaden
stammten. Das hatte Buchriesers kriminalistischen Spürsinn auch zu dessen besten Zeiten beeinträchtigt.
»Also, ich gehe noch mal die Strecke ab, wo wir gearbeitet haben. Bleibt oft Werkzeug liegen, verstehen Sie?«
»Wann war das ungefähr?«
»Auftrag vom Rottenführer habe ich um elf gekriegt.«
»Rottenführer? Klingt ja schaurig«, sagte Schwarz.
»Heißt aber echt so.«
»Hm.«
»Ich gehe also mit der Lampe bis Ende Bauabschnitt und wie ich mich umdrehe, sehe ich die zwei.«
Schwarz vergaß, dass er an dem Pilsglas Spuren von Lippenstift entdeckt hatte, und nahm einen Schluck.
»Ich habe sofort gecheckt, da ist was faul.«
»Weil die im gesperrten Bereich unterwegs waren?«
»Nicht nur. Die sind ganz schnell gelaufen und haben immer geschaut, ob sie einer sieht.«
»Und Sie nicht bemerkt, Edi?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich war ja ganz drüben auf der anderen Seite.«
»Das sind zweihundert Meter, dann können Sie die beiden gar nicht beschreiben?«
Er seufzte tief. »Nicht so gut.«
Schwarz wartete auf eine Fortsetzung des Berichts, doch Edi machte keine Anstalten.
»Und weiter?«
Der Gleisarbeiter zuckte die Achseln. »Der Rottenführer hat gefunkt, wo ich bleibe. Da bin ich zurück.«
»Den Suizid selbst haben Sie gar nicht mitgekriegt?«
»Ich habe Warnsignale und die Bremse gehört, aber gesehen … nein.« Er machte ein trauriges Gesicht.
Schwarz legte ein paar Münzen für das Bier auf den Tresen, da fiel ihm noch etwas ein. »Als die Männer zu ihrem Versteck hinter dem Pfeiler gelaufen sind, ist Ihnen da etwas aufgefallen?«
Edi schloss theatralisch die Augen, um sich die Situation zu vergegenwärtigen. Als er sie endlich wieder öffnete, schüttelte er den Kopf.
»Schade«, sagte Schwarz und wandte sich zum Gehen.
21.
Die Telefonnummer, die Schwarz von Thomas Engler bekommen hatte, war ununterbrochen besetzt. Als er endlich zu einer Sekretärin durchkam, erfuhr er, dass der Chef gerade in einer Pressekonferenz sei. Schwarz erkundigte sich nach dem Ort.
»Sind Sie akkreditiert?«
»Nein, sonst müsste ich Sie nicht fragen.«
»Dann tut es mir leid.«
Schwarz musste seine ganze Überredungskunst aufbieten, damit sie ihm die
Location
verriet.
Das neue ›Railway Plaza Hotel‹ lag in einem lange Zeit ungenutzten, historischen Gebäude direkt am Bahnhof. Trotz seiner Größe und Schönheit hatte Schwarz es bisher nicht bewusst wahrgenommen, vielleicht weil er nicht zur potentiellenKlientel eines Fünfsterne-Hauses gehörte. Das bemerkte allerdings auch das Empfangspersonal.
»Hallo? Wohin wollen Sie?«, rief ein junger Mann in Operettenuniform streng.
»Zur Pressekonferenz der Bahn.«
»Ach so. Da entlang, der Herr. Im Maffei-Saal.«
Schwarz kam zu spät. Thomas Engler, in modischem beigefarbenem Anzug und hellblauer Krawatte, war bereits mitten in seinen Ausführungen. Er sprach in druckreifen Sätzen über den »Werther-Effekt«. Schwarz war sich sicher, dass das Thema der Pressekonferenz nicht die schädliche Wirkung von Sahnebonbons auf Mitarbeiter oder Kunden der Bahn war. Also spielte Engler auf die Selbstmordwelle an, die Goethes ›Werther‹ seinerzeit unter jungen Lesern ausgelöst hatte.
»Wegen des Nachahmungseffekts haben wir, sehr geehrte Damen und Herren, mit Ihnen seit vielen Jahren ein Stillhalteabkommen. Wissenschaftler bestätigen uns, dass es äußerst wirksam ist. Dank Ihrer kooperativen Haltung wurden viele Selbstmorde auf dem Gleis verhindert – das ist statistisch erwiesen. Ich bitte Sie also, lassen Sie uns an dieser Strategie festhalten. Verzichten Sie weiterhin auf spektakuläre Darstellungen von Bahnsuiziden in Presse und Fernsehen und vor allem auf Hintergrundberichte, die Verständnis für die Motive der Selbstmörder wecken oder Mitleid mit ihnen hervorrufen könnten. Dadurch nämlich würden gefährdete Menschen regelrecht herausgefordert und Sie als Journalisten trügen – ich muss es so hart formulieren – eine Mitschuld an deren Schicksal und an den schweren seelischen Verletzungen unserer betroffenen Lokführer.«
Im Saal entstand Unruhe. Ein älterer Journalist mit kurz geschorenem Haar und Jeanshemd hob die Hand und bekam das Wort erteilt.
»Herr Engler, ich denke, Sie müssen hier nicht mit solchen Geschützen auffahren. Für die Medien ist das eine schwierige Gratwanderung. Unsere Aufgabe ist ja nicht die Suizidprävention im Einzelfall, sondern die Information einer breiten Öffentlichkeit.«
»Richtig. Ganz
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