Personenschaden
ein.
Er stürzte zurück an den Computer und schrieb eine Mail an Cobain. »Hi, alles in Ordnung bei dir? Ich vermisse deine Beiträge im Forum. CU Novalis.«
Woher kam diese quälende Unruhe? Warum hatte er solche Angst, es könnte Cobain gewesen sein, der sich vor den Zug geworfen hat? Er war immer dafür eingetreten, den Suizid aus einer möglichst neutralen Perspektive zu betrachten, ohne Moral und persönliche Betroffenheit. Selbstmord war für ihn nur ein Phänomen gewesen, das er mit Gleichgesinnten zu ergründen suchte.
Er kannte Cobain alias Matthias Sass ja nicht einmal. Was ging es ihn an, wenn er seinem Leben ein Ende gemacht hatte? Es war dessen freie Entscheidung.
Novalis erinnerte sich an Cobains ersten Auftritt imSuizid-Forum. »Hallo, ich bin Cobain und mir geht’s sehr schlecht. Ich weiß nicht, ob ich weiterleben soll oder nicht. Ich bin leider nicht sehr stark, aber vielleicht könnt ihr mir ja helfen.« Mit seiner Ehrlichkeit und Naivität hatte Cobain sofort die Aufmerksamkeit der User auf sich gezogen. Helper hatte sein übliches Lebensrettungsprogramm gestartet, andere warteten mit guten Tipps gegen die Angst vor dem Tod auf. Cobain hatte auch eindeutige, sexuelle Angebote erhalten, denn keiner zweifelte daran, dass er auch in Wirklichkeit der sensible Theologiestudent im dritten Semester war, als der er sich ausgab.
Ich habe die Telefonnummer, dachte Novalis. Soll ich noch mal anrufen? Was ist, wenn er gar nicht tot ist und abhebt? Er wird denken, ich will was von ihm, obwohl ich doch von niemandem was will.
Aber alles war besser als diese nagende Ungewissheit. Die Nummer war in seinem Handy gespeichert. Er tippte und wartete.
»Sass«, sagte eine Frauenstimme.
»Könnte ich«, stammelte Novalis, »mit Co…, also mit Matthias sprechen?«
»Wer sind Sie?«
»Ein Studienkollege.«
»Matthias ist tot«, sagte die Frau mit tonloser Stimme.
Novalis spürte, wie es ihm den Boden unter den Füßen wegzog, und drückte das Gespräch weg. Tot? Woher hatte Cobain die Kraft genommen, sich umzubringen? Er hatte doch nur mit dem Gedanken gespielt, weil er vom Leben überfordert war. Er war keiner, der ernst machte. Außerdem war er doch religiös, und für einen Katholiken war Selbstmord eine Todsünde.
Aber da war ja noch Amok. Er besaß die Kraft, die Cobain fehlte.
Novalis versuchte, sich zu erinnern, was Amok im Forum geschrieben hatte. Es gab kaum Beiträge, die etwas über seine Persönlichkeit verrieten. Meistens hatte er nur kommentiert und beobachtet wie ein Forscher, der statt einer seltenen Tierart eben potentielle Selbstmörder studierte. Er verachtete Selbstmitleid und Koketterie und machte kein Geheimnis aus seiner rigorosen Haltung zum Suizid: Jeder Mensch könne frei über den Zeitpunkt seines Todes entscheiden. Mit dem Entschluss zum Freitod ende jede soziale Verantwortung.
Amok konnte sehr direkt, manchmal sogar brutal werden. Aber das war nur eine Seite an ihm. Die andere war schwerer zu fassen.
Er war ein Manipulator, dachte Novalis, und hat wie eine Spinne seine kaum sichtbaren Fäden durch das Forum gezogen. Wenn die anderen sich darin verfangen hatten, war er oft schon wieder verschwunden.
War Cobain für immer in Amoks Spinnennetz hängen geblieben?
Erhebliche Behinderungen des Güter- und Fernverkehrs
. Amok hatte Cobain Informationen über den Lokführer versprochen. Sie hatten sich getroffen. Und es war sicher nicht bei einer Begegnung geblieben. Obwohl Cobain leicht zu beeinflussen war, brauchte Amok mehr Zeit, um Macht über ihn zu gewinnen. Hatte er ihn am Ende wie der Fürst der Finsternis an den Rand seines Grabes geführt? Hatte er ihn davon überzeugt, dass er keine andere Wahl hatte, als den entscheidenden Schritt zu gehen?
Aber warum? Was hatte Amok davon, wenn ein anderer sich umbrachte?
Er trank die Dose Red Bull in einem Zug aus. Ekelhaft. Eigentlich müsste er die Polizei benachrichtigen. Aber er hatte Angst vor den Konsequenzen. Man würde sein Forumdurchleuchten, ihn auf die nächste Polizeiinspektion schleppen und ihm peinliche Fragen stellen. Und am Ende würde man von ihm vielleicht sogar die Schließung von www.muenchner-freitod.de verlangen.
Seine Augen brannten. Er schloss das Fenster, ließ das Rollo herunter und setzte sich wieder vor seine drei Monitore. Ihr Flackern im dunklen Raum war für ihn wie ein wärmendes Feuer. Was hatte er mit der Polizei zu schaffen? Was ging die Welt draußen ihn an?
Er musste schmunzeln. Deepness
Weitere Kostenlose Bücher