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Personenschaden

Personenschaden

Titel: Personenschaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Probst
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Papier nachlegen, bis endlich alles ausgedruckt war. Eva hatte sich längst in die Lektüre vertieft, als er sich auch einen Stapel Papier nahm. Er blätterte und blickte auf Darstellungen von Selbstmördern aus der Bildenden Kunst, auf das Foto eines jugendlichen Erhängten aus einem Lehrbuch der Rechtsmedizin, auf Wasserleichen und Menschen, die sich mit Autoabgasen getötet hatten. Ein Kommentar wies darauf hin, dass diese Methode heutzutage wegen der modernen Katalysatoren und schadstoffarmen Abgasaufbereitung häufig nicht mehr zum Ziel führe. Manche Aufnahmen waren gestellt, wie das einer barbusigen Frau, die sich eine Pistole in den Mund schob und dabei in die Kamera zwinkerte, andere offensichtlich Fotomontagen. Jedenfalls konnte Schwarz sich nicht daran erinnern, dass mal die Leiche eines erfolglosen Stürmers des TSV 1860   München am Balkon des Münchner Rathauses gehangen hatte. So ging das seitenlang weiter undSchwarz begann sich zu fragen, in welcher Welt er eigentlich lebte.
     
    Nach den Bildern und Fotos zum Selbstmord kam ein Kapitel mit der Überschrift ›Ethik des Suizids‹. Beim Lesen des Threads gelangte Schwarz schnell zu dem Eindruck, dass hier wirklich ernsthaft diskutiert wurde. Die User philosophierten über den Begriff
Selbstmord
, den einige diskriminierend fanden, über die Frage, ob der Mensch überhaupt das Recht habe, seinen Todeszeitpunkt frei zu bestimmen, und über die Verantwortung des Selbstmörders gegenüber seiner Umwelt. Immer wieder wurde aus einem Text Jean Amérys mit dem Titel ›Hand an sich legen‹ zitiert.
    Plötzlich schrie Eva auf. »Ich glaube, ich habe ihn. Sein Nickname ist
Cobain
.« Sie hielt Schwarz ein Blatt hin.
    Er las laut. »Solange ich Priester werden wollte und mein Leben einem anderen geweiht hatte, wagte ich es nicht einmal, daran zu denken. Jetzt, nachdem mein Glaube gestorben ist, weiß ich, dass mein Weg nur in den Tod führen kann.«
    »Seid Ihr Katholiken immer so pathetisch?«, fragte Eva.
    »Redest du mit mir?«
    »Entschuldige, halachisch bist du ja ein Jude.«
    »Halachisch?«
    »Meine Güte, Anton, nach der Halacha. Das ist unser Religionsgesetz. Nach dem bist und bleibst du Jude mit deiner jüdischen Mame.«
    Schwarz hob resigniert die Schultern. Der Eindruck, dass es bei seiner Mutter kein Entrinnen gab, drängte sich ihm schon länger auf. Er persönlich fand es ja nicht so wichtig, ob er als Christ oder Jude galt. Er hatte eher ein grundsätzliches Problem mit Religionen, und wenn er von den Seelenqualen las, die Cobain beschrieb, fühlte er sich nur bestätigt.
     
    Es gab keinen Zweifel: Matthias Sass war in dem Suizid-Forum mit dem Namen des Sängers der Band Nirvana angemeldet gewesen. Eva und Schwarz konnten sich auf die von Cobain verfassten Beiträge konzentrieren. So entstand vor ihren Augen das Bild der letzten Wochen und Monate des jungen Mannes, der sein Leben vor Klaus Englers Lok beendet hatte.
    »Hallo, ich bin Cobain und mir geht’s sehr schlecht. Ich weiß nicht, ob ich weiterleben soll oder nicht. Ich bin leider nicht sehr stark, aber vielleicht könnt ihr mir ja helfen.«
    Mit diesen Worten hatte Sass sich vor gut einem halben Jahr im Forum vorgestellt. Offenbar war sein naiver Kinderglaube durch das Theologiestudium schwer erschüttert worden. Die ersten Beiträge Cobains spiegelten noch seinen verzweifelten Versuch, zur Religion zurückzufinden, später wurde seine Todessehnsucht immer stärker. Er hatte die Hoffnungen seiner Mutter und der Kirche schwer enttäuscht und verdiente es nicht, weiterzuleben. »Ich muss, das weiß ich nun, unauffällig aus dieser Welt verschwinden.«
    Wieso denn unauffällig?, fragte ein Mitglied namens
Amok
.
    Schwarz stutzte und überflog die letzten Seiten noch einmal. Sein Eindruck war richtig. Sobald Cobain sich im Forum zu Wort meldete, tauchte auch dieser Amok auf – als läge er auf der Lauer und wartete nur auf ihn.
    Schwarz verfolgte gebannt, wie Amok nach und nach immer mehr Einfluss auf Cobain gewann und dessen Entwicklung von der verzweifelten Gottessuche zum zornigen Selbst- und Menschenhass raffiniert beförderte. In seinen letzten im Archiv gespeicherten Äußerungen beschrieb Cobain seinen Wunsch, ein Fanal zu setzen. Er wollte nicht mehr leise und ohne jemandem wehzutun aus dem Leben scheiden – er wollteall den glücklichen Menschen, die ihn überlebten, etwas beweisen.
    Dann hatte Amok Cobain auf die Diskussion über Tim Burgers Suizid hingewiesen und die beiden

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