Perth
die Gegend. Immer wenn ich nicht im Auto saß, joggte ich auf Straßen, über Wiesen, durch Wohngebiete und durch dichte Wälder. Ich ging nie. Immerhin konnte ich jetzt von dem intensiven Lauftraining, das ich in der Schule und auf der Universität regelmäßig absolviert hatte, profitieren. Überall rief ich ständig, so laut ich konnte, nach Perth. »Perth, hierher Perth, Hündchen, komm her, du ungezogener Hund« und alles, was mir sonst noch einfiel. Schwitzend, von Ästen und Domen zerkratzt und durchnässt, rannte und schrie ich Stunde um Stunde. Ich war überzeugt, dass sie mich hören, meine Stimme erkennen würde und aus dem Wald geradewegs auf mich zugeschossen kommen würde. Aber es gab keine Spur von ihr. Nichts. Dann ging ich zurück zum Auto und machte dasselbe in einem anderen Gebiet wieder. Als es dunkel wurde, war ich ein körperliches Wrack. Meine Stimme war weg, und ich war verdreckt und sehr deprimiert. Es gab wenig Grund zur Hoffnung. Nach dem Abendessen fand ich das Zelt in der Dunkelheit und ging zu Bett.
Jeder Tag der nächsten Woche lief gleich ab. In Vermont musste es viele vermisste Hunde geben, denn ich fand noch fünf weitere. Nur nicht Perth. Ich begann gereizt auf einige Leute zu reagieren, denen ich begegnete. Wenn ich an ihre Türen klopfte und fragte, ob sie einen Hund gesehen hatten, der aussah wie Perth, wünschten einige mir Glück, aber die meisten sagten etwa Folgendes: »Ach herrje, Ihr Hund ist schon seit zwei Monaten fort? Dann werden Sie ihn nie mehr finden, glauben Sie mir. Wenn er noch nicht von einem Auto überfahren worden ist, könnte er von einem Hundefänger aufgegabelt worden sein. Es gibt genügend von denen hier in der Gegend. Sie fangen Tiere für medizinische Experimente .« Es machte eigentlich nicht viel Sinn, mich oder Perth zu verteidigen, indem ich erklärte, dass mein Hund einen Hundefänger nicht einmal in seine Nähe kommen lassen würde beziehungsweise, dass derjenige zumindest mit seinem Blut für seine Dreistigkeit bezahlen würde. Es war leichter, einfach zu gehen und es beim nächsten Haus zu probieren. Aber ich gebe zu, dass ich gelegentlich ein paar unverblümte Bemerkungen machte, wenn ich dies zu oft von selbstgefälligen Leuten zu hören bekam, die argwöhnisch hinter der halb geöffneten Eingangstür hervorlugten. Wenn ich ehrlich war, hatte auch ich das Gefühl, dass es angesichts des Verschwindens von Perth, das bereits zwei Monate zurücklag, so schien, als wolle ich eine Geschichte neu schreiben und ihr ein Happy End verpassen.
Meinen Tiefpunkt erreichte ich am Ende der ersten Woche, während einer der langen Nächte im Zelt. Bei meiner Suche fühlte ich mich immer leerer und einsamer; und plötzlich wurde mir klar, dass ich in einer Welt der Illusionen und der Selbsttäuschung lebte. Mein Leben war wie ein stetig wiederkehrender schlechter Traum. Jeden Tag rannte ich auf der Suche nach Perth durch unbekannte Gebiete, fragte bei fremden Menschen nach ihr, meinte ihre Gestalt in Schatten zu erkennen, stellte mir vor, dass bestimmte Formen, Geräusche und Orte mich direkt zu ihr führen würden. Allmählich verlor ich den Bezug zur Wirklichkeit. Sogar Perth schien mir teilweise unwirklich zu sein. Ich sah sie immer wieder vor mir, obwohl sie nicht da war.
Da es um neun Uhr dunkel wurde und ich danach nichts mehr tun konnte, außer zu essen und erschöpft in mein Zelt zu krabbeln, entschloss ich mich, in eine andere Fantasiewelt zu flüchten, indem ich beim Schein der Taschenlampe auf meiner alten klammen Matratze einen Roman las. Ich kaufte Der Monddiamant von Wilkie Collins, eine gruselige Detektivgeschichte, die im viktorianischen England spielt. Sie handelt von einem gestohlenen Diamanten, einem Mord, Selbstmord, Schlafwandlern, Opium und Intrigen in frostigen, mondhellen Nächten, in denen Detektiv Cuff versucht, den Diamanten aufzuspüren. Es ist ein dickes Buch, und so lag ich dort, Nacht um Nacht in meinem kleinen Zelt, fühlte mich aufgrund der beängstigenden Stille der Landschaft verletzlich und bedrückt und hielt das Buch in der einen und die Taschenlampe, die ich auf die Seite richtete, in der anderen Hand. Abgesehen von dem Lichtkegel war es stockdunkel. Die einzigen Geräusche entstanden durch mein Atmen und das Umblättern der Seiten.
In dieser Nacht las ich gerade einen unheimlichen Abschnitt, in dem eine Gruppe von mysteriösen indischen Jongleuren vorkommt, die sich als Mörder entpuppen, als ich draußen vor meinem
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