Pesch, Helmut W.
sich selbst.
»Wohl gesprochen!«, erklang hinter Hagen eine Stimme, die ihm so vertraut war, als hätte er sie sein Leben lang gehört.
Hagen wandte sich um. Er sah Alberich direkt in die Augen, ging förmlich auf in dem wilden Blick des Herrn der Swart-alfar, und die Macht des Königs, der ihn an Sohnes statt angenommen hatte, ließ in ihm eine verwandte Saite anklingen. Ja, für ihn war Alberich mehr als ein Vater; denn der Herr der Schwarzalben hatte ihn sofort verstanden, hatte einen Blick in sein Herz geworfen, und ihn besser erkannt, als jeder Mensch es vermocht hätte.
»Komm, mein Sohn«, forderte Alberich ihn auf. »Es ist an der Zeit, in die Thronhalle zurückzugehen.«
Mîm trat vor. Er verneigte sich kurz vor Hagen.
»Mîm wird deine Schildwache sein«, gab ihm der König zu verstehen. »Er wird dir dienen und dich im Kampf beschirmen, auf dass wir beide noch lange in der Anderswelt herrschen mögen – nachdem wir dem bleichen Gezücht und ihrer Königin gegeben haben, was ihnen gebührt.«
Um die Bedeutung seiner Worte zu unterstreichen, hob Alberich seine mächtige Streitaxt. Das Eisen des Stiels war nachtschwarz. Das breite geschwungene Blatt schimmerte mattsilbern im fahlen Licht der Rüstkammer. Eine Wunde von dieser Waffe musste tödlich sein. Alberich hängte die Axt an seinen breiten Gurt.
»Ich bin bereit, Meister«, antwortete Hagen und salutierte mit dem Schwert, ehe er es in die Scheide zurücksteckte.
»Bitte, Hagen«, begann Alberich, »ich sehe in dir einen Sohn, und so erweise mir bitte die Ehre und nenne mich Vater. Wir sind, wenn nicht von gleichem Blut, so doch eines Geistes – des Geistes, der nach Rache und Vergeltung an Dieben und Verrätern schreit.«
»Ich bin bereit, Vater«, wiederholte Hagen und sah dem Herrn der Swart-alfar ins Gesicht. Für einen Moment schien es, als spiegele sich darin eine lang entbehrte Freude. Aber der Eindruck war schnell wieder vorbei, und das Feuer des Hasses, des Zorns und der unbefriedigten Rache kehrte in Alberichs Augen zurück.
Aber Hagen hatte den Moment des Erkennens bemerkt, der ihm gegolten hatte. Sein leiblicher Vater hatte ihn nie mit einem solchen Blick angesehen. Wenn Hagen es recht bedachte, war der Blick seines Vaters eher von Missachtung und Gleichgültigkeit ge-prägt gewesen. Selbst Siggi wurde von seinen Eltern geliebt, aber die würden ihren kleinen blonden Wunderknaben nicht mehr wiedersehen.
Hagen hatte seinen wahren Vater gefunden, einen, der ihn und seine Gefühle verstand.
»Komm, Sohn«, sagte Alberich nur. »Folge mir in die Halle.«
Hagen lächelte. Stolz brandete in ihm auf. Nun würde alle neidisch auf ihn sein. Und niemand würde ihm je wieder etwas weg-nehmen können.
So machten sich der König der Swart-alfar und sein neuer Sohn auf den Weg aus der Rüstkammer zurück in die Halle. Mîm folgte ihnen auf dem Fuße. Die Frauen blieben zurück.
Ihre Blicke folgten dem König, und in den Augen der Frauen standen die widersprüchlichsten Gefühle: Stolz, Ehrfurcht und Zorn, aber auch Trauer, Angst und Mitgefühl. Sicher waren die Frauen stolz darauf, ihre Söhne und Männer in Kampf gegen das bleiche Gezücht Asgards ziehen zu sehen, aber auf der anderen Seite würden manche vielleicht aus diesem Kampf nicht zurückkehren, würden tot auf dem Schlachtfeld zurückbleiben. Frauen würden zu Witwen werden, Kinder zu Waisen. Das galt auch für die Lios-alfar, und so sehr die Frauen auch hassten, ein Rest von Mitgefühl mit ihren bleichen Schwestern auf der anderen Seite blieb bestehen.
Und dann gab es da immer noch die Legenden von der letzten Schlacht, welche die Anderswelt auslöschen, vernichten würde …
Die Skalden sangen in ihren Liedern von diesem letzten großen Gefecht, bei dem das Feuer Muspelheims durch die Höhlen und Dome rasen würden, der Tod reichliche Ernte hielt und Mann, Frau und Kind durch die Hiebe von Äxten oder Schwertern fielen oder vom Feuersturm ins ewige Nichts gerissen wurde.
Und hatte der König nicht den Ruf nach der letzten Schlacht ausgestoßen? War er sicher, dass er damit meinte, dass das bleiche Ge-zücht zu besiegen und in das Joch zu zwingen wäre? Konnte diese letzte große Schlacht überhaupt einen Sieger haben? Die Zweifel wuchsen, und die Furcht blieb.
Kam das Ende der Anderswelt? War Ragnarök da? Ragnarök – der Weltuntergang!
Die Frauen kannten die Antwort nicht, aber es war eine besondere Nacht, und Legenden waren auferstanden, die in Gestalt eines
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