Pesch, Helmut W.
den Menschen doch nicht so richtig überliefert worden.«
»Lass dich durch ihn nicht irritieren«, sagte Gunhild.
»Die Walküren waren Töchter Odins, die er mit Erda, der Erdmutter, gezeugt hatte – Kriegerinnen in seinen Diensten, welche die Geister der Gefallenen gen Walhall führten und die Lebenden im Kampf inspirierten.
Brunhild hatte Mitleid mit Sieglinde und warnte die beiden Geschwister vor Odins Absicht. Daraufhin stieg Odin selbst von Walhall herab und zerbrach Siegmunds Schwert, das er ihm selber geschmiedet hatte. Und so war Siegmund waffenlos, als Hunding kam, der Gatte seiner Schwester, um ihn zu töten.
Brunhild aber trug Sieglinde auf dem Rücken ihres Pferdes hinweg an einen unbekannten Ort, wo Regin sie sterbend fand, als sie ihren Sohn gebar. Und Regin nahm den kleinen Siegfried mit sich, zusammen mit den Bruchstücken von Siegmunds Schwert –«
»Wir müssen fort!« Einer der Lios-alfar, es war Yngwe, erkennbar an seinen weißblonden Haaren, war wie aus dem Nichts aufgetaucht. »Die Swart-alfar sind in der Nähe. Hört ihr es nicht?«
Die Kinder, die nur Ohren für Laurions Erzählung gehabt hatten, lauschten. Aus dem Fels drang dumpfer Trommelschlag herauf; er schien von allen Seiten zugleich zu kommen.
Laurion sprang auf. »Kommt! Ich werde euch die Geschichte von den Wälsungen ein andermal zu Ende erzählen müssen.«
Er eilte ihnen voraus, den Gang hinunter. Siggi und Gunhild folgten ihm; Yngwe bildete den Schluss.
Ihr Weg führte über einige Windungen nach links und zunächst immer weiter in die Höhe. Schließlich kamen sie an eine Stelle, wo der Gang plötzlich zu Ende war, doch Laurion legte seine Hand auf eine Stelle, und eine Felsplatte schob sich fast geräuschlos zur Seite.
»Schnell!«
Sie huschten durch die Spalte, und hinter ihnen schloss sich der Fels wieder. Siggi blickte sich rasch um, aber es war keine Spur von einer Tür mehr zu sehen.
Sie befanden sich auf einem hohen Sims, und von ferne hörten sie das Rauschen eines Wasserfalls. Ein Lichtschein in der Ferne wies auf eine Öffnung hin, und Siggi erkannte, dass es sich um die Stelle handelte, wo sie das Reich der Lichtalben betreten hatten und wo er zuvor fast in den Abgrund gestürzt war. Doch bevor er etwas sagen konnte, sah er zwei weitere von ihrem Trupp, Modi und Magni, die auf sie warteten und ihnen mit Gesten geboten, zu schweigen.
Laurion zog ihn und Gunhild zu sich heran. »Leise«, hauchte er.
»Seht nach unten. Schwarzalben.«
Das Geräusch von Trommeln kam aus der Tiefe, und weit unter ihnen bewegten sich rote Lichter.
Modi deutete nach rechts, und sie alle schlichen so lautlos, wie es im ungewissen Dämmerlicht der Höhle nur möglich war, das Gesims entlang. Die Höhle verengte sich, bis die gegenüber liegende Wand nur noch wenige Meter entfernt war, dennoch unerreichbar über den tiefen Abgrund, der sich zu ihren Füßen auftat. Schließ-
lich mussten sie sich ducken, weil die Decke sich bis zu ihren Köpfen niedersenkte. Hier waren sie bestimmt nicht hergekommen, dachte Siggi; aber er konnte sich nicht mehr erinnern, welchen anderen Weg sie genommen hatten.
Schließlich hatten sie die Engstelle überwunden und konnten auch wieder aufrecht stehen. Laurion zog sie in eine Nische.
»Wir befinden uns hier in dem umstrittenen Gebiet zwischen Lichtalbenheim und den Brutstätten des Gezüchts«, sagte er, und man merkte den Hass, der in seinen Worten mitschwang, als er das dunkle Volk erwähnte. »Dieses Gebiet wimmelt von Schwarzalben; sie marschieren hier zum Krieg auf. Wir müssen versuchen, ihr Reich weiträumig zu umgehen, um uns von hinten heranzuschlei-chen. Doch dieser Weg ist nicht frei von Gefahren; seid ihr dazu bereit, es zu wagen?«
»Natürlich!«, sagte Siggi, der bei dem Wort ›Gefahren‹ automatisch nach seinem Hammer gegriffen hatte. »Na klar«, fügte er etwas leiser hinzu.
»Was für Gefahren?«, fragte Gunhild, die sich selber wunderte, dass sie sich hier als die Besonnenere erwies.
»Der Weg ist mit vielen Fallen bestückt. Und vor allem müssen wir erst einmal diese Schlucht überqueren.«
»Wie soll das geschehen?«
»Kommt!«
Sie folgten ihm, bis die Höhle sich wieder öffnete. Aus der Tiefe war das leise Rauschen eines Baches zu hören. In den Nebeln, welche die hochgewirbelten Wassertropfen erzeugten, sahen sie eine Brücke.
Es war eine natürliche Felsbrücke. Sie spannte sich ohne ein Ge-länder über die Tiefe, mindestens sechs, sieben Meter lang; es
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