Pesch, Helmut W.
war schwer zu schätzen, weil sich das andere Ende im Dunst verlor.
Und sie war höchstens einen halben Meter breit.
»Da sollen wir rüber?«, fragte Gunhild.
»Widar und Wali erwarten uns auf der anderen Seite. Ich gehe zuerst, dann ihr, dann Yngwe und die Übrigen.«
»Okay«, sagte Siggi. Gunhild schaute ihn an, als sei ihr kleiner Bruder nicht ganz dicht.
Sie gingen im Gänsemarsch, ein paar Schritte auseinander. Siggi hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und die Lippen aufeinander gepresst, doch er hielt seinen Hammer fest umklammert. Hier, kam ihm der plötzliche Gedanke, würde ihm auch der Ring nicht helfen. Ob unsichtbar oder nicht, wenn er hier run-terfiel, war er tot. Lieber nicht daran denken, lieber nicht an das Wasser denken, das da unten in der Tiefe brodelte … Dann war er drüben.
Er seufzte erleichtert auf. Jetzt bloß nicht mehr zurück, war sein einziger Gedanke. Dann hörte er ein Poltern hinter sich und merkte, dass Gunhild nicht hinter ihm war.
Er drehte sich um. Gunhild stand auf der Mitte des Steges. Sie hatte ihren Speer verloren, der irgendwo unten in die Tiefe trudelte.
Sie hielt die Augen geschlossen, die Arme von sich gestreckt, und schwankte wie im Wind, doch das Einzige, was sich bewegte, war das tosende Wasser weit, weit unter ihnen.
»Gunni!«
Gunhild wusste, dass Siggi sie rief, aber sie konnte sich nicht bewegen.
Sie hatte nie solche Angst gespürt. Sie war immer forsch und frech gewesen, hatte nie ein Risiko gescheut. Obwohl sie ihrem kleinen Bruder immer zur Seite gestanden hatte, hatte sie doch nie geahnt, wie es wirklich war, Angst zu haben. Und jetzt hatte sie Angst.
»Gunhild, komm!«
Sie bewegte die Lippen. »Ich … kann … nicht.«
Siggi tat einen Schritt auf den Steg hinaus, dann, ohne zu denken, einen zweiten. Dann war er bei ihr.
»Komm, gib mir die Hand.«
Rückwärts, Schritt für Schritt, zog er sie mit sich, und sie folgte ihm. Yngwe, der ihr gefolgt war, hatte sie bei den Schultern gefasst.
So gingen sie, bis sie das sichere Felsband erreicht hatten. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, aber dann war es geschafft.
»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, sagte Gunhild, nachdem sie sich auf einen Stein niedergelassen hatte. Die Lios-alfar um-standen sie und sahen sie mit einem Blick an, in dem sich Besorg-nis mit einem Ausdruck mischte, den sie nicht recht zu deuten wusste.
»Also, wenn ihr meiner Schwester jetzt irgendwas am Zeug flicken wollt –«, begann Siggi.
»Das will keiner«, unterbrach ihn Laurion. »Aber es zeigt, dass der Wille mächtiger ist als die Natur, nicht wahr. Wie bei Siegfried.«
Gunhild lächelte matt. »Du hast uns immer noch nicht das Ende der Geschichte erzählt«, sagte sie.
Auch Laurion lächelte. »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen.
Odin verbannte Brunhild zur Strafe auf einen hohen Felsen und versetzte sie in Schlaf. Doch weil er sie liebte, versprach er ihr, dass nur ein Held sie würde erlösen können. Darum umgab er den Felsen mit einer Flammenwand – es heißt, es sei Loki selbst gewesen in seiner Feuergestalt.
Und dann kam der Held, mit dem er nie gerechnet hatte. Siegfried, der Drachentöter, der Herr des Ringes. Odin versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen, doch mit dem neu geschmiedeten Schwert seines Vaters zerschlug Siegfried Odins Speer und nahm ihm seine Macht. Dann drang er durch die Waberlohe und befreite Brunhild.
Das ist eigentlich alles. Wir müssen weiter.«
Vor ihnen taten sich in der Felswand drei Öffnungen auf.
»Wir trennen uns hier«, beschloss Laurion. »Wir nehmen den mittleren Weg, Yngwe, die Kinder, und ich. Modi und Magni den linken, Wali und Widar den rechten. So können sie uns vor Gefahren warnen oder notfalls gegen die Spähtrupps der Feinde schützen.
Gehen wir!«
Als sie sich, Laurion voraus, Siggi und Gunhild in der Mitte und Yngwe als Nachhut, in die Tiefe des Ganges vorwagten, meinte Siggi zu seiner Schwester:
»Ich habe das noch nicht ganz verstanden. Wieso hat Siegfried den Speer zerschlagen können? Ich meine, das ging doch gar nicht.«
»Ich glaube«, meinte Gunhild nachdenklich, »das hat etwas damit zu tun, wer seine Eltern waren.«
»Du meinst, weil sie Bruder –«
»– und Schwester waren, ja. Der Einäugige – Odin – hat gesagt, dass keiner seinen Pakt brechen könnte, der unter dem Gesetz der Natur geboren war. Er glaubte sich unfehlbar. Doch sein eigener Plan hatte ihn in die Falle geführt. Denn Siegfried stand
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