Pesch, Helmut W.
bemühte sich, nur auf die Füße des Lios-alf zu sehen, der sie durch diese Röhre führte, durch die ein Erwachsener kaum gepasst hätte.
Weiter, nur weiter, hämmerte es in Siggi. Er versuchte nicht mehr an die tausend oder mehr Meter Fels über ihm zu denken, die nur darauf warteten, über ihm zusammenzubrechen, ihn zu begraben, zu zerquetschen …
Siggi fand ein Mittel gegen den Fels, gegen die Enge. Das Bild des Rheins stieg vor ihm auf, der wie ein Schwert die Landschaft geteilt hatte, und über sich hatte er den weiten Himmel, die Wolken und die Sonne gehabt. Krampfhaft versuchte er, diese Vision zu behalten; sie beruhigte. Sein Körper, so schien es ihm, schob sich mechanisch wie eine Marionette vorwärts, während der Rhein seinen Geist erfüllte, jener Strom, den Gunhild für ein silbernes Band und Hagen für eine graue Schlange gehalten hatte.
»Komm hoch!« Laurion Stimme riss Siggi aus dem Dämmerzu-stand.
Ich hab’s geschafft!, jubelte Siggi innerlich. Er konnte es kaum fassen, dass die Enge verschwunden war, und er sich wieder aufrichten konnte. Siggi weigerte sich, auch nur einen Blick zurückzuwerfen; stattdessen sah er Laurion an, wartete auf den Spott, den der Lios-alf über ihm ausschütten würde. Aber nichts dergleichen geschah.
»Wage es nicht!«, sagte Gunhild, und nicht nur die Stimme des jungen Mädchens, auch ihre Haltung war eine Warnung an den Lios-alf. Das Mädchen wusste genau, welche Ängste Siggi ausgestan-den hatte. Auch ihr hatte es in der Enge den Atem geraubt, und vor ihrem geistigen Auge war das Gefühl entstanden, in einem Sarg zu liegen. Allein der Gedanke an Yngwe und das Opfer, das er für sie gebracht hatte, hatte verhindert, dass die Angst sie in den Griff bekam.
»Ich hatte nicht die Absicht, mich über Siggi lustig zu machen«, verteidigte sich Laurion. »Allein die Tatsache, dass man in den Höhlen lebt, bedeutet nicht, die Furcht nicht zu kennen, wenn man sich durch Röhren oder schmale Durchlässe zwängen muss.«
Siggi sah dem Lios-alf in die Augen, und er konnte kein falsches Mitleid darin erblicken.
Damit war das Thema beendet. Laurion griff abermals nach seiner Feldflasche und reichte sie herum.
»Die ist ja wieder voll!«, entfuhr es Gunhild. »Wo hast du die denn nachgefüllt?«
»Die Königin hat die Flasche geweiht«, entgegnete Laurion zum zweiten Mal.
»Kann sie so was?«, fragte Gunhild.
»Sie kann noch viel mehr«, entgegnete Laurion. »Sie ist noch eines der wirklich zaubermächtigen Wesen der Anderswelt.«
»Warum zaubert sie da die Swart-alfar nicht einfach weg?«, fragte Siggi.
»Weil das nicht die Natur ihres Zaubers ist. Ihre Magie vernichtet nicht; sie erschafft oder hilft. Und außerdem haben auch die Swart-alfar ihren König, und auch er ist in gewisser Hinsicht eines Zaubers mächtig, einer Macht, die uns fremd ist«, erklärte Laurion.
Siggi und Gunhild begriffen kaum etwas von dem; denn ihnen war jegliche Zaubermacht bis vor kurzem überhaupt fremd gewesen. Ihr Vater hatte ihnen einige Zauberkunststücke erklärt und hatte gesagt, alles was mit Zauberei zusammenhänge, sei Illusion und Fingerfertigkeit. Doch die letzten Stunden hatte ihnen bewiesen, das es Dinge gab, die weit über das hinausreichten, was mit bloßen Tricks zu erklären war. Warum also sollte es nicht möglich sein, dass eine Wasserflasche durch Zauber wieder gefüllt wurde?
»Kommt jetzt, wir müssen weiter«, sagte Laurion, nachdem sie alle getrunken hatten.
Der Trank hatte die Furcht vertrieben. Sie waren erfrischt, und auch Siggi fühlte sich wieder kräftig genug, den Weg fortzusetzen.
Der Gang vor ihnen war wieder so, dass sie aufrecht gehen konnten, und so breit, dass man selbst mit ausgestreckten Armen die Seitenwände nicht berührte.
»Ist es noch weit?«, fragte Siggi wieder.
»Wir kommen immer näher«, entgegnete Laurion mit gedämpfter Stimme, »und von nun an sollten wir schweigen.«
»Eine Frage noch«, flüsterte Gunhild, und sie Wartete damit, bis Laurion sie auffordernd ansah. »Gibt es hier noch irgendwelche Fallen?«
»Eigentlich nicht mehr«, antworte Laurion, »aber man kann nie wissen, was die Swart-alfar so ausbrüten. Ihr habt gesehen, ihre Werkzeuge haben überall die Höhlen verschandelt. Aber wir werden vorsichtig sein und das Beste hoffen.«
Sie setzten ihren Weg fort. Siggi bemerkte, dass das Licht an Intensität gewann, heller wurde. Der Fels war einfacher auszumachen.
Laurion schien seine Augen überall zu haben, aber er
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