Pesch, Helmut W.
sich nach vorn fallen und verkeilte das Schwert so mit seinem Körper. Schon im Sturz verschleierte sich sein Blick, doch sein Wille war ungebrochen.
Mîm, für den Bruchteil eines Augenblicks abgelenkt, vielleicht auch zu erschöpft durch die eigene Verletzung, sah die Klinge nicht kommen, die ihm, mit Laurions allerletzter Kraft geführt, tief in die Seite drang. Ein Blutschwall schoss aus seinem Mund, und er starb in seines toten Feindes tödlicher Umarmung.
»Mîm!«, rief Hagen aus. Und Siggi erkannte, dass Mîm für ihn etwas Ähnliches gewesen war wie Laurion für sie: ein Freund in einer fremden Welt. Siggi standen die Tränen in den Augen, als er die beiden Toten betrachtete.
Völlig starr, den Speer in Hand, den Kopf gesenkt, stand Hagen da. Er war von den Ereignissen überrollt worden – und er besaß niemanden, keine Schwester, keinen Freund, sich daran zu halten oder Trost zu finden.
Nur noch Hagen und Alberich waren auf der Walstatt verblieben.
Odin, der Graue, war irgendwann während des Kampfes verschwunden, und niemand hatte gesehen, wohin er geflohen war.
Siggi hatte kein Mitleid mit dem Alten, der durch seine Gier nach dem Erhalt seiner Macht eine gehörige Mitschuld daran trug, dass alles so weit gekommen war.
»Hagen!«, grollte Alberich. »Du bist es nicht wert, den Namen der Nibelungen zu tragen. Große Hoffnungen hatte ich in dich gesetzt, aber bei der ersten Probe deines Mutes versagst du kläglich!
Ich verstoße dich. Du bist mein Sohn nicht mehr.«
Hagen drehte sich um und rannte zur Pforte hinaus, rannte blindlings in das Labyrinth der Gänge. All seine Träume, Wünsche und Hoffnungen waren in der heißen Luft Muspelheims zerronnen wie Schnee in der Morgensonne. Mit großen Erwartungen war er gekommen, als Prinz der Swart-alfar; nun ging er dahin als ein Verstoßener, geächtet und wie ein Hund davongejagt.
Erst als Hagen verschwunden war, fiel Siggi auf, dass ihr Freund den Speer des Schicksals immer noch bei sich trug.
Doch Alberich schien es nicht zu kümmern. Der Nibelung stand regungslos vor dem schwarzen Amboss, um den sich in ewigem Kreis die Midgardschlange zog. Seine Augen waren schwarz wie Kohle, der Blick darin undeutbar. Dann schlang er den schwarzen Mantel um sich und verließ mit schweren Schritten die Feuer von Muspelheim. Er hatte einen Krieg zu führen.
Unsichtbar und vor allen Blicken verborgen, blieben Siggi und Gunhild zurück.
9
Das Halsband der Göttin
Gunhild löste sich von Siggis Schultern, wischte sich die Tränen aus den Augen und schniefte. Der Junge wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatten, aber es war für ihn ein schönes Gefühl, neben all der Trauer um Laurion und dem Unverständnis für Hagen, der auf die Einflüsterungen Alberichs gehört hatte, seiner Schwester einen kleinen Teil des Schutzes und Trostes wiedergeben zu können, die sie ihm früher immer gespendet hatte. Es war wie ein Lichtstrahl in der Dunkelheit.
Siggi fragte sich, ob die Schlacht, das Sterben zweier unversöhnlicher Völker, schon begonnen hatte. Ein Krieg, der nur Verlierer kennen würde. Er fragte sich, ob Laurion und Mîm nicht hätten Freunde sein können, wenn dieser Hass nicht gewesen wäre.
»Ist er …?«, fragte Gunhild.
»Ja«, antwortete Siggi, der wusste, wen Gunhild meinte. »Laurion ist tot. Er ist für uns gestorben«, erklärte er seiner Schwester. »Er hat tapfer gekämpft.«
Gunhild warf einen beinahe scheuen Blick auf den Kampfplatz.
Sie ertrug es gefasst, den jungen Lios-alf, der sie durch so manche Gefahren geführt hatte, tot zu sehen.
»Was ist passiert? Warum konnte uns keiner sehen?«, fragte Gunhild.
»Wir waren unsichtbar und sind es noch. Es ist der Ring, den Hagen aus dem Brunnen geholt hat. Es ist der Ring des Nibelungen; du hast Alberich gehört. Der Ring macht seinen Träger und die, die er berührt, unsichtbar.«
Gunhild nickte nur.
»Wie bist du überhaupt hierhergekommen?«, fragte Siggi.
»Laurion und ich sind gemeinsam in die Tiefe gestürzt. Dann rutschten wir durch absolute Finsternis. Irgendwann kamen wir in einem kahlen Raum heraus. Dort hat uns Odin mit ein paar von den dunklen Kriegern erwartet. Er sagte: ›Ah, da kommt Alberichs Lohn mit einer hübschen Beigabe.‹ Der Alte lächelte dabei so komisch, als freue er sich schon auf einen Triumph.«
Gunhild machte eine kurze Pause, schloss die Augen, als wollte sie die Bilder dieses Augenblicks noch mal zu sich rufen.
»Dann«, fuhr Gunhild fort, »stürzten
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