Pestmond (German Edition)
ersten Mal in ihrem Leben gegen den Wind zu kreuzen. Andrej hoffte, dass es ihnen gelang, ohne das Schiff zum Kentern zu bringen.
Er war mit Hasans Fernglas bewaffnet noch einmal auf das Achterkastell hinaufgegangen, zum einen, um den Mann am Ruder zu beaufsichtigen, zum anderen, um noch einen letzten Blick auf die Küste und die Stadt zu werfen.
Und natürlich den Strand.
Er erschrak, als er das Glas auf den schmalen Sandstreifen am Fuße der Lavawand richtete und ihn leer fand. Zwischen den schwarzen Felsen lag der eine oder andere Leichnam mit verdrehten Gliedmaßen oder eingeschlagenem Schädel, doch die zahllosen Leichen, die noch am Morgen dort gelegen hatten, waren verschwunden. Sein Verstand sagte ihm, dass die Ebbe die reglosen Körper ins Meer hinausgezogen hatte, aber ein kribbelndes Unbehagen blieb, als wären die Toten aufgestanden und hätten sich auf den Weg zu ihnen gemacht, um sich das Fleisch zu holen, nach dem sie gierten.
»Fällt Euch der Abschied so schwer, Kapitän?«
Andrej ließ das Glas zwar sinken und stützte sich schwer mit beiden Unterarmen auf die morsche Reling, wandte sich jedoch nicht zu Abu Dun um. Der Nubier hatte ihm die ganze Zeit über Gesellschaft geleistet, doch seine Hilfe hatte sich auf ein permanentes hämisches Grinsen und die eine oder andere spöttische Bemerkung beschränkt. »Ich hoffe doch, ich habe es nicht allzu schlecht gemacht, Pirat«, sagte er schließlich. »Ein wenig Unterstützung wäre nicht das Schlechteste gewesen.«
»Für eine Landratte hast du dich erstaunlich gut geschlagen. Auch wenn mir ein Wüstenschiff tatsächlich lieber wäre.«
»Weil es besser riecht?«
»Auch.« Abu Dun nickte grimmig. »Aber sie gehen auch nicht so schnell unter, und im Allgemeinen haben sie auch weniger Löcher.« Die Decksplanken ächzten unter seinem Gewicht, als er neben ihn trat, zu Andrejs Erleichterung aber darauf verzichtete, sich auf das morsche Geländer zu stützen. »Ich frage mich, warum es unser geschätzter Auftraggeber so eilig hat, nach Italien zu kommen.«
»Das hat er uns doch gesagt.« Andrej spähte weiter zur Küste hinüber. Ohne das Fernglas war der Strand nur eine dünne Trennlinie zwischen Felsen und Meer, und auch die Stadt selbst begann allmählich an Schärfe und Struktur zu verlieren, als würde sie von der sie umgebenden Wüste verschluckt.
»Schon. Aber spielt es eine Rolle, ob wir den Heiligen Vater in Rom einen Tag früher oder später umbringen?«
»Er wird schon seine Gründe haben«, antwortete Andrej einsilbig. Warum auch immer, er wollte sich mit dieser Frage nicht beschäftigen; vielleicht weil er spürte, dass sie zu einer anderen geführt hätte, die noch viel unangenehmer gewesen wäre.
Abu Dun kannte solcherlei Skrupel offensichtlich nicht, denn er stellte sie laut. »Meinst du, dass es etwas mit dem da zu tun hat?«, fragte er mit einem Nicken auf die Küste. Erstaunt stellte Andrej fest, wie weit sie sich schon von der Stadt und damit dem ganzen Land entfernt hatten – sein Zeitgefühl wollte ihm weismachen, dass nur wenige Augenblicke vergangen waren, seit sie das Schiff in Bewegung gesetzt hatten. »Das weiß ich nicht«, antwortete er nach einer kleinen Ewigkeit. »Aber versprich mir etwas, Pirat!« Er trat einen halben Schritt von der Reling zurück, um Abu Dun fest in die Augen zu blicken. »Wenn ich mich in eines dieser … dieser Dinger verwandeln sollte, dann tötest du mich!«
Abu Dun sah kurz ihn, dann beunruhigend lange seinen verbundenen Knöchel und schließlich wieder ihn an, bevor er mit fast feierlicher Miene nickte. »Darauf gebe ich dir mein alleroberheiligstes Piratenehrenwort, Hexenmeister. Ich schwöre es beim Grab meiner Mutter. Oder deiner, wenn dir das lieber ist. Oder der Hasans. Falls er eine Mutter gehabt hat, heißt das.«
»Ich meine es ernst.«
»Ich auch«, erwiderte Abu Dun. »Ich würde auch auf die Jungfräulichkeit der Mutter unseres Auftraggebers in Rom schwören, wenn es irgendeinen Sinn hätte und ich nicht sicher wäre, dass es damit ohnehin nicht mehr zum Besten steht. Es sei denn, es ist wahr, was man sich über diese heiligen Männer so erzählt.«
Obgleich Andrej nicht zum Scherzen zumute war, tat er Abu Dun den Gefallen zu fragen: »Und was wäre das?«
»Dass sie sich durch unbefleckte Empfängnis vermehren«, antwortete Abu Dun ernst.
»Und was genau soll das bedeuten?«, fragte eine Stimme hinter ihnen. Hasan wartete nicht ab, bis er sich ganz zu ihm umgedreht
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