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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Smilla.«
    Er hat etwas Rührendes, als ginge ihm jetzt erst auf, daß wir längst aufgehört haben zu spielen.
    »Die Sache ist nur die«, sage ich, »daß ich nichts habe, wofür sich das Zurückkommen sonderlich lohnt.«
    Ich wuchte den Karton selbst auf die Brücke. Als ich hinterhersteige und mich umdrehe, schaut er mich noch einen Augenblick an, eine kleine Gestalt, das große Gummiboot hebt und senkt sie und versetzt sie in tanzende Bewegung. Dann wendet er sich um und stößt ab.

Das Meer
    I

1
    Die Kajüte ist zweieinhalb auf drei Meter. Trotzdem haben sie darin ein Waschbecken mit Spiegel, einen Schrank, eine Koje mit Leselampe, ein Regal für Bücher, unter dem Bullauge einen kleinen Schreibtisch mit Stuhl und auf dem Tisch den großen Hund untergebracht.
    Er reicht vom Schott bis über die Koje, ist also ungefähr zwei Meter lang. Seine Augen sind unglücklich, seine Pfoten dunkel, und bei jeder Krängung versucht er mich zu berühren. Wenn ihm das gelingt, verrotte ich auf der Stelle, das Fleisch wird mir von den Knochen fallen, die Augen werden ausfließen und in ihren Höhlen verdampfen, meine Eingeweide werden sich durch die Haut pressen und in einer Wolke aus Sumpfgas explodieren.
    Er gehört nicht hierher. Er gehört überhaupt nicht in meine Welt. Er heißt Aajumaaq und ist aus Ostgrönland. Meine Mutter hat ihn von einem Besuch in Angmagssalik mit nach Hause gebracht. Als sie ihn dort unten einmal gesehen hatte, begriff sie, daß er immer in der Gegend von Qaanaaq gewesen sein muß, und seitdem sah sie ihn regelmäßig. Er berührt die Erde nie, auch jetzt schwebt er ein Stück über dem Schreibtisch, und er ist hier, weil ich auf einem Schiff bin.
    Ich habe immer Angst vor dem Meer gehabt. In einen Kajak haben sie mich nie reingekriegt, obwohl das der sehnlichste Wunsch meiner Mutter war. Und ich habe nie einen Fuß an Deck von Moritz' ›Swan‹ gesetzt. Ich mag das Eis unter anderem deshalb, weil es das Wasser zudeckt und fest macht, sicher, befahrbar, überschaubar. Ich weiß, daß draußen der Seegang und der Wind stärker geworden sind, weit vorn stampft der Bug der Kronos in den Wellen, zersplittert sie und schickt lärmende Wasserkaskaden die Reling entlang, die sich vor meinem Bullauge in zischenden Nebel auflösen, der weiß durch die Nacht leuchtet. Auf dem offenen Meer gibt es keine Landmarken, nur eine amorphe, chaotische Verschiebung richtungsloser Wassermassen, die sich auftürmen und brechen und rollen und deren Oberfläche wiederum durch Teilsysteme gebrochen wird, die ineinandergreifen, Wirbel bilden, verschwinden, sich formieren und zuletzt spurlos vergehen. Langsam wird sich dieses Durcheinander in die Flüssigkeitsbahnen meines Gleichgewichtssystems hineinarbeiten und meinen Ortssinn auflösen, in meine Zellen vorkämpfen und ihre Salzkonzentration und damit die Leitungsfähigkeit des Nervensystems verschieben und mich taub, blind und hilflos zurücklassen. Ich fürchte das Meer nicht, weil es mich ersticken will. Ich fürchte es, weil es mir meine Orientierung, das innere Gyroskop meines Lebens nehmen will, die Gewißheit des Oben und Unten, meine Verbindung zum absolute space .
    In Qaanaaq wächst niemand auf, ohne auf das Meer zu gehen. Niemand kann wie ich als Studentin, professionelle Depotauslegerin und Navigatorin in Nordgrönland leben, ohne gezwungen zu sein, auf See zu gehen. Ich bin sehr viel länger auf dem Meer und auf sehr viel mehr Schiffen gewesen, als ich eigentlich wahrhaben möchte. Wenn ich nicht gerade auf einem Deck stehe, gelingt es mir in der Regel, den Gedanken zu verdrängen.
    Ich baue ab, seit ich vor einigen Stunden an Bord gekommen bin. In meinen Ohren kocht es bereits, in meinen Schleimhäuten sackt die Flüssigkeit merkwürdig unmotiviert weg. Ich bin nicht mehr sicher, wo die Himmelsrichtungen sind. Auf meinem Tisch wartet Aajumaaq darauf, daß ich mir eine Blöße gebe.
    Er wartet direkt vor dem Tor, das in den Schlaf führt. Jedesmal, wenn ich meinen Atem tiefer werden höre und weiß, jetzt schlafe ich, gleite ich nicht in das friedliche Verdämmern der Wirklichkeit, das ich brauche, sondern falle neben dem schwebenden Hilfsgeist, dem Hund mit den dreikralligen Pfoten, die sich in der Phantasie meiner Mutter vergrößert und verstärkt haben und von klein auf in meine Alpträume eingepflanzt wurden, in eine neue, gefährliche Klarheit.
    Es ist vielleicht eine Stunde her, seit die Maschinen angelassen wurden und ich weit weg die Ankerwinde

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