Peter Hoeg
die Fenster des Promenadendecks. Links vor mir ist hinter blauen Gardinen Licht. Ich hämmere mit der flachen Hand gegen die Scheibe. Als ich schon aufgegeben habe und weiterklettere, werden die Gardinen vorsichtig zur Seite gezogen. Kützow schaut zu mir heraus. Ich habe an das Fenster der Maschinenmeisterei geklopft. Er legt die Handflächen an das Gesicht, um die Reflexe wegzuhalten, und lehnt sich an die Scheibe. Seine Nase wird zu einem zerfließenden, mattgrünen Fleck. Unsere Gesichter sind nur wenige Zentimeter voneinander entfernt.
»Hilfe«, schreie ich. »Hilfe, zum Teufel!«
Er sieht mich an. Dann zieht er die Gardinen vor.
Ich klettere weiter. Die Sprossen sind zu Ende, und ich falle neben den Davits, die das Backbordrettungsboot halten, auf das Bootsdeck. Die Tür ist gleich rechts. Sie ist abgeschlossen. Eine Außenleiter wie die, auf der ich gekommen bin, führt den Schornstein hinauf, zur Plattform vor der Brücke. Unter anderen Umständen hätte man Verlaines Gründlichkeit bewundern müssen. Am Ende der Leiter, wenige Meter über mir, steht Maurice. Den Arm noch immer in der Binde. Er ist da, um sich zu vergewissern, daß es auf den höher gelegenen Decks keine Zeugen gibt.
Ich laufe zu der Treppe, die nach unten führt. Aus dem Stockwerk darunter kommt mir Verlaine entgegen. Ich kehre um. Ich denke mir, daß ich vielleicht das Rettungsboot herablassen kann. Daß es irgendeinen Schnellauslöser haben muß, daß man es aufs Wasser fallen lassen kann. Daß ich hinterherspringen können muß.
Vor den Spillen zum Abfieren gebe ich auf. Das System aus Karabinerhaken und Drähten ist unüberschaubar. Ich reiße die Persenning vom Boot. Um etwas zu finden, mit dem ich mich verteidigen kann. Einen Bootshaken, eine Signalrakete.
Die Persenning ist aus schwerem grünem Nylon, das mit einem Gummizug an der Reling des Bootes abschließt. Als ich sie anhebe, zieht der Wind sie weg, und sie flattert über die Schiffsseite. In einem Auge am Steven des Rettungsbootes bleibt sie hängen. Verlaine ist auf dem Deck. Hinter ihm Hansen. Ich packe das grüne Nylon und trete über die Schiffsseite hinaus. Die Kronos rollt, ich werde abgehoben, presse die Schenkel um die Persenning und fiere mich ab. Am Ende der Persenning baumeln meine Füße im leeren Raum. Dann falle ich, sie haben sie losgeschnitten.
Ich strecke die Arme aus, die Reling trifft mich in den Achselhöhlen. Meine Knie schlagen gegen die Schiffsseite. Aber ich bleibe hängen. Erst gelähmt, vor allem weil mir der Atem wegbleibt. Danach rolle ich kopfüber auf das Oberdeck.
Eine kurze, absurde Erinnerung an die ersten Seeräuberspiele meines Lebens, gleich nachdem ich nach Dänemark gekommen war. Das ungewohnte Spiel, das schnell die Schwachen und danach in einer natürlichen Hierarchie auch alle anderen ausschloß. Die Versuche, am Leben zu bleiben, wenn alle anderen Fänger waren.
Die Tür zur Treppe geht auf, Hansen kommt heraus. Ich laufe auf das Achterdeck, komme neben der Treppe heraus. In Kopfhöhe kommen ein paar blaue Schuhe die Stufen herunter. Ich stecke die Hände durch das Geländer und fege die Füße nach außen. Es ist nur eine Fortsetzung ihrer eigenen Bewegung, es braucht dazu keine Kraft. Sie segeln in einem kurzen Bogen durch die Luft, und neben meiner Schulter knallt Verlaines Kopf auf die Treppe. Danach stürzt er die letzten Meter und rammt das Deck, ohne nach einem Halt zu greifen.
Ich laufe die Treppe hoch. Auf dem Bootsdeck nehme ich die Backbordseite und klettere von dort aus die Leiter hoch. Maurice muß mich gehört haben. Als ich mich aufrichte, erreicht er die Leiter. Hinter ihm geht die Tür zur Brücke auf, Kützow kommt heraus. Er ist im Bademantel und barfuß. Er und Maurice sehen einander an. Ich gehe an ihnen vorbei auf die Brücke.
Ich taste in der Tasche nach der Taschenlampe. Der Lichtkegel fängt Sonnes Gesicht ein. Am Ruder steht Maria.
»Ich muß in den Sanitätsraum«, sage ich. »Ich habe einen Unfall gehabt.«
Sonne geht voraus. Vor dem Kartenraum dreht er sich um und bleibt stehen. Ich sehe an mir herunter. Meine Jogginghose hat keine Knie mehr. Nur zwei blutige Löcher. Beide Handflächen sind aufgeschnitten.
»Ich bin gefallen«, sage ich.
Er schließt den Sanitätsraum auf. Er vermeidet es, mich direkt anzusehen.
Als ich mich hinsetze und die Haut über den Knien spannt, bin ich nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Ein Strom aus kleinen, schmerzvollen Erinnerungen. Die ersten Treppen im
Weitere Kostenlose Bücher