Peter Hoeg
Antwort.
»Weißt du, was ich auf Gela Alta will?«
In diesem ›ich‹ liegt ein Moment großer Aufrichtigkeit. Weg sind das Schiff, die Besatzung, bin ich, sind seine Kollegen. Die ganze aufwendige Maschinerie bewegt sich allein um seinetwillen. Die Frage ist ohne jede Überheblichkeit. Es ist ganz einfach so. Irgendwie sind wir alle hier, weil er es gewollt hat und es hat durchsetzen können.
Ich balanciere auf Messers Schneide. Er weiß, daß ich gelogen habe. Daß ich nicht ohne Hilfe bis hierher gekommen bin. Allein die Tatsache, daß es mir gelungen ist, überhaupt an Bord zu kommen, sagt ihm das. Doch er weiß immer noch nicht, ob er neben einer Einzelperson oder einer Organisation sitzt. Sein Zweifel ist meine Chance. Mir fallen die Mienen der Robbenfänger ein, wenn sie nach Hause zurückkehrten. Je mehr sie scheinbar die Ohren hängen ließen, desto mehr lag auf dem Schlitten. Ich erinnere mich an die falsche Bescheidenheit meiner Mutter nach dem Fischfang; was bei ihr nur gespielt war, ließ Moritz in einem seiner Wutausbrüche heraus: Am besten ist es, wenn man zwanzig Prozent untertreibt. Vierzig Prozent sind noch besser.
»Wir werden etwas holen«, sage ich. »Etwas so Schweres, daß man ein Schiff von der Größe der Kronos braucht.«
Kein Anhaltspunkt dafür, was in ihm vor sich geht. In der Dunkelheit spüre ich nur den Druck einer Aufmerksamkeit, die registriert und analysiert. Und wieder kommt mir das Bild eines Eisbären: die nüchterne Bilanz, die das Raubtier aus seinem Hunger, der Verteidungsfähigkeit der Beute, den Umständen zieht.
»Weshalb der Anruf«, höre ich mich fragen. »In meiner Wohnung?«
»Mit diesem Anruf habe ich viel begriffen. Keine normale Frau, kein normaler Mensch hätte bei diesem Anruf abgenommen.«
Wir treten gleichzeitig auf die Plattform hinunter, die jetzt eine leichte Eisdecke hat. Wenn ein Brecher gegen den Rumpf prallt, spürt man die Anstrengung des Motors, merkt man, daß der Druck auf die Schraube zunimmt.
Ich lasse ihn vorausgehen. Die Machtvollkommenheit eines Menschen nimmt ab, wenn er ins Freie kommt. Seine nicht. Er nimmt den Raum und das graue, wässerige Licht um uns herum in seine eigene Ausstrahlung auf. Noch nie zuvor habe ich einen Menschen auf diese Weise gefürchtet.
Hier, auf der Plattform, weiß ich plötzlich, daß er mit Jesaja auf dem Dach gewesen ist. Daß er ihn hat springen sehen. Die Gewißheit kommt wie eine Vision, noch ohne Einzelheiten, doch absolut sicher. In diesem Moment teile ich über Zeit und Entfernung hinweg Jesajas Angst, in diesem Augenblick bin ich mit auf dem Dach.
Als er die Hände am Geländer hat, sieht er mir in die Augen.
»Würdest du bitte ein paar Schritte zurücktreten.«
Unser gegenseitiges Verständnis ist vollkommen und fast wortlos. Er hat eine Möglichkeit gesehen. Daß er die Leiter ein paar Schritte hinuntersteigt, ich vortrete und seine Hände losreiße, ihm ins Gesicht trete und ihn die zwanzig Meter rücklings auf das Deck fallen lasse, das unter uns so begrenzt wirkt, als könnte man nicht sicher sein, ob er es überhaupt treffen würde.
Ich trete zurück, bis ich den Rücken am Geländer habe. Ich bin ihm fast dankbar dafür, daß er diese Vorsichtsmaßnahme getroffen hat. Die Versuchung wäre möglicherweise zu groß für mich gewesen. Zweimal ist es vorgekommen, daß ich nach Grönland gefahren bin und mein Spiegelbild ein halbes Jahr lang nicht gesehen habe. Auf der Heimreise habe ich alle Spiegel in Maschinen und Flughäfen sorgfältig gemieden. Wenn ich mich dann in meiner Wohnung vor den Spiegel stellte, sah ich den physischen Ausdruck des Laufs der Zeit ganz deutlich. Die ersten grauen Haare, das Spinnengewebe der Falten, die immer tieferen und deutlicheren Schatten der Knochen unter der Haut.
Kein Wissen war für mich beruhigender als die Gewißheit, daß ich sterben muß. In diesen Augenblicken der Klarsicht – und man sieht sich selbst nur klar, wenn man sich als Fremden sieht – verschwinden alle Verzweiflung, aller Mutwille, alle Depression und weichen der Ruhe. Für mich war der Tod nicht so sehr ein Schreckbild, ein Zustand oder ein Ereignis, das eintreten und mich treffen wird, sondern eher eine Konzentration auf das Jetzt, eine Hilfe, ein Verbündeter in der Arbeit des Gegenwärtigseins.
In Sommernächten kam es vor, daß Jesaja auf meinem Sofa einschlief. Ich erinnere mich nicht, was ich tat, ich habe wohl nur dagesessen und ihn angeschaut. Irgendwann habe ich seinen
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