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Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
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Glas ist brühheiß. Der Kaffee kochend. Normalerweise verlieren heiße Getränke beim Umgießen ihre Temperatur. Aber hier hat das Dampfrohr das Glas zusammen mit der Milch auf 100 Grad erhitzt.
    »Die Tür ist offen. Ich gehe also rein. Man konnte ja nicht w-wissen, daß du da im Dunkeln sitzen und w-warten würdest.«
    Ich schlürfe vorsichtig über die Oberfläche. Das Getränk ist so stark, daß es mir das Wasser in die Augen treibt und ich plötzlich mein Herz spüre.
    »Ich hatte über das nachgedacht, was du oben auf dem Dach gesagt hast. Über die Spuren.«
    Er stottert nur ganz leicht. Ab und zu gar nicht.
    »Wir waren ja Freunde. Er war so klein. Aber wir waren trotzdem Freunde. Wir reden nicht viel miteinander. Aber wir haben Spaß zusammen. Mensch, haben wir Spaß! Er sch-schneidet Grimassen. Er nimmt den Kopf in die Hände. Er kommt hoch und sieht aus wie ein alter, kranker Affe. Er versteckt ihn wieder. Kommt wieder hervor. Er sieht aus wie ein Kaninchen. Dann noch mal, und er sieht aus wie Frankensteins Monster. So daß ich auf den Knien liege und ihm schließlich sagen muß, daß er aufhören soll. Gib ihm einen Klotz und ein Stemmeisen. Gib ihm ein Messer und ein Stück Speckstein. Er sitzt da, knobelt und brummt wie ein kleiner Bär. Ab und zu sagt er etwas. Aber auf grönländisch. Zu sich selber. Wir arbeiten also. Jeder für sich und trotzdem zusammen. Ich denke bei mir, nur gut, daß er ein so feiner Mensch sein kann – bei der Mutter.«
    Er macht eine lange Pause in der Hoffnung, daß ich übernehme. Aber ich komme ihm nicht zu Hilfe. Wir wissen beide, daß ich Anspruch auf eine Erklärung habe.
    »Eines Abends sitzen wir also da wie immer. Da kommt Petersen, der Hauswart. Er hat seine Weinballons beim Wärmetauscher auf der Treppe stehen. Kommt, um sich seinen Aprikosenwein zu holen. Sonst ist er ja um diese Zeit nie hier. Ich höre also seine tiefe Stimme. Das Klappern seiner Holzpantinen. Und dann sehe ich auf den Jungen hinunter. Und der sitzt zusammengekrümmt da. Wie ein Tier. Das Messer, das du ihm geschenkt hast, hat er in der Hand. Zittert am ganzen Körper. Sieht lebensgefährlich aus. Auch nachdem er gesehen hat, daß es nur Petersen ist, zittert er immer weiter. Ich nehme ihn auf den Schoß. Zum erstenmal. Ich spreche auf ihn ein. Er will nicht nach Hause. Ich n-nehme ihn mit hier hoch. Lege ihn aufs Sofa. Ich denke daran, dich anzurufen, aber was soll man schon sagen. Man kennt sich ja nicht so gut. Er schläft hier. Ich wache hier beim Sofa. Alle Viertelstunde springt er hoch wie eine Feder, zittert und weint.«
    Er ist kein großer Redner. In den letzten fünf Minuten hat er mehr zu mir gesagt als in den vergangenen anderthalb Jahren zusammen. Das ist eine derartige Selbstpreisgabe, daß ich ihn nicht direkt anschauen kann, sondern in den Kaffee gucke. Dort hat sich eine Fläche aus klaren, kleinen Blasen gebildet, die das Licht einfangen und es in Rot und Lila brechen.
    »Von dem Tag an habe ich das Gefühl, daß er vor irgend etwas Angst hat. Was du über die Spuren gesagt hast, geht mir immer wieder im Kopf herum. Ich beobachte dich also ein bißchen. Du und der Baron, ihr versteht euch – habt euch verstanden.«
    Jesaja war einen Monat vor meinem Einzug nach Dänemark gekommen. Juliane hatte ihm ein Paar Lackschuhe geschenkt. Lackschuhe sind in Grönland etwas Vornehmes. Seine Fächerzehen waren in die spitzen Modelle einfach nicht hineinzuzwängen, Juliane war es jedoch gelungen, ein Paar fußgerechte Schuhe zu finden. Seitdem nannte der Mechaniker Jesaja den Baron. Wenn ein Spitzname hängenbleibt, dann deshalb, weil er eine tiefere Wahrheit eingefangen hat. In diesem Fall war es Jesajas Würde. Die etwas damit zu tun hatte, daß er so selbstgenügsam war. Daß ihm die Welt nur so wenig zuführen mußte, damit er zufrieden war.
    »Rein zufällig sehe ich, daß du zu Juliane hochgehst und dann bald wieder weg. Ich schleiche dir in meinem Morris hinterher. Sehe, wie du den Hund fütterst. Daß du rüberkletterst. Ich öffne die andere Zauntür.«
    So hängt das also zusammen. Er hört etwas, sieht ein bißchen, er geht hinterher, öffnet eine Zauntür, kriegt etwas an den Kopf, und da sitzen wir nun. Keine Wunder, nichts Neues und Beunruhigendes unter der Sonne.
    Er wirft mir ein schiefes Lächeln zu. Ich lächele zurück. Wir sitzen da, trinken Kaffee und lächeln uns an. Wir wissen, daß ich weiß, daß er lügt.
    Ich erzähle ihm von Elsa Lübing. Von der

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