Peter Hoeg
es mir im nächsten Augenblick genommen würde, wäre das durchaus in Ordnung.
Ich tue nichts mehr, um Europa oder Dänemark auf Abstand zu halten, aber ich bitte sie auch nicht darum zu bleiben. Irgendwie sind sie Teil meines Schicksals. Sie kommen und gehen durch mein Leben. Ich habe aufgegeben. Was ich tue, tut nichts mehr zur Sache.
Es ist Nacht. Die letzten Tage sind so endlos lang gewesen, daß ich mich auf mein Bett und auf einen alles verschlingenden Schlaf wie in meiner Kindheit gefreut habe. Wenn ich gleich am Champagner genippt habe, werde ich aufstehen und gehen.
Der Mechaniker öffnet die Flasche fast lautlos. Er schenkt langsam und sorgfältig ein, bis die Gläser etwas mehr als halb voll sind. Sie beschlagen sofort mit einem matten Nebel. Aus unsichtbaren Unebenheiten an den gewölbten Innenseiten steigen feine Perlenreihen an die Oberfläche.
Er legt die Ellbogen auf die Knie und sieht in die Perlen. Sein Gesicht ist völlig abwesend, fasziniert von dem Anblick und in diesem Augenblick unschuldig wie das eines Kindes. So habe ich auch Jesaja oft die Welt betrachten sehen.
Ich lasse mein Glas unberührt stehen und setze mich vor ihm auf den niedrigen Tisch. Unsere Gesichter sind jetzt auf einer Höhe.
»Peter«, sage ich. »Du kennst die Entschuldigung, daß man blau war und deshalb nicht gewußt hat, was man tat.«
Er nickt.
»Deshalb kommt das hier, bevor ich trinke.«
Dann küsse ich ihn. Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergeht. Doch solange es dauert, sitzt mein ganzer Körper im Mund.
Danach gehe ich. Ich hätte bleiben können, aber ich gehe. Weder um meinet- noch um seinetwillen. Aus Respekt vor dem, was mich gepackt hat, was seit Jahren nicht mehr dagewesen ist, was ich nicht mehr zu kennen meine, was mir fremd ist.
Es dauert lange, bis ich einschlafe. Vor allem, weil ich es nicht über mich bringe, die Nacht und die Stille zu verlassen und das wache, feinnervige Bewußtsein aufzugeben, daß er irgendwo unter mir liegt.
Als der Schlaf endlich kommt, meine ich in Siorapaluk zu sein. Wir liegen zu mehreren Kindern auf der Pritsche. Wir haben uns Geschichten erzählt, jetzt sind die anderen eingeschlafen. Nur meine Stimme ist noch übrig. Ich höre sie von außen, höre, wie sie versucht, sich aufrecht zu halten. Doch dann fängt sie an zu schlingern, wankt, geht in die Knie, breitet die Arme aus und läßt sich von einem Netz aus Geschichten auffangen.
5
Das Handelsregister ist in der Kampmannsgade Nr. 1 untergebracht, das Gebäude wirkt gut erhalten, frisch gestrichen, effektiv, verläßlich, hilfreich und exklusiv, ohne angeberisch zu sein.
Der Mann, der mir hilft, ist noch ein Junge. Er ist höchstens dreiundzwanzig, trägt einen zweireihigen Schneideranzug aus dünnem Harris-Tweed, einen weißen Seidenschlips, weiße Zähne und ein breites Lächeln.
»Wo habe ich dich schon mal gesehen?« sagt er.
Die Unterlagen sind in einem Spiralhefter abgelegt, der Stapel ist so dick wie eine Bilderbibel, und darauf steht ›Jahresabschluß 1991 der Aktiengesellschaft Kryolithgesellschaft Dänemarks‹.
»Wo findet man, wer die Gesellschaft kontrolliert?«
Seine Hände streifen die meinen, als er den Hefter aufschlägt.
»Das kann man nicht ohne weiteres sehen. Doch laut Aktiengesetz müssen auf der ersten Seite alle Aktienpakete über fünf Prozent aufgeführt werden. Vielleicht bei einem Fest in der Wirtschaftshochschule?«
Die Liste hat vierzehn Zeilen, Personen- und Unternehmensnamen durcheinander. Ving. Und die Nationalbank. Und Geoinform.
»Geoinform, kannst du mir deren Jahresabschluß zeigen?«
Er setzt sich an die Tastatur. Während wir auf den PC warten, lächelt er mich an.
»Ich komme schon noch drauf, wo es gewesen ist«, sagt er. »Du hast doch nicht etwa Jura studiert?«
Er hat gerade in einer französischen Zeitung gelesen. Er folgt meinem Blick.
»Ich will in den diplomatischen Dienst«, sagt er. »Da muß man schon am Ball bleiben. Über die Geoinform haben wir nichts. Das ist sicher keine Aktiengesellschaft.«
»Kann man herauskriegen, wer da im Vorstand sitzt?«
Er holt ein Buch, das doppelt so dick ist wie ein Telefonbuch und Greens dänische Fonds heißt. Er schlägt für mich nach. Im Vorstand der Geoinform sitzen drei Personen. Ich schreibe mir die Namen auf.
»Kann ich dich nicht zum Essen einladen?«
»Ich will gerade zum Dyrehave und Spazierengehen«, sage ich.
»Ich kann dich ja begleiten.«
Ich zeige auf seine Slipper.
»Da liegen
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