Peter Hoeg
allmählich. Daß es eine Sache war. Die drei anderen wußten das. Sie sagten nie etwas. Fragten mich aber immer wieder nach bestimmten Wendungen. Nach und nach begann sich dann ein Bild abzuzeichnen.«
Wir verschwinden wieder, sie ist in Hamburg, an der Elbe und im August 1946.
»Es gab ein Wort, nach dem sie immer wieder fragten. Es war ›Niflheim‹. Eines Tages habe ich es nachgeschlagen. Es bedeutet ›Nebelwelt‹. Es ist der äußerste Teil des Totenreiches ›Hel‹.
Ende August mußten sie das Feld, das sie absuchten, eingeengt haben, denn von da an bekamen wir nur noch Briefe, die dieselben vier Leute wechselten. Die Umschläge sahen wir nie. Wir kannten nur die Namen, nie die Adressen. Anfangs hatten wir acht Briefe. Jede Woche kamen etwa zwei neue. Der Kode war in gewisser Weise schlampig. Wie etwas, das in aller Eile zusammengeschustert worden war. Aber trotzdem kompliziert zu knacken, weil er nicht auf der Normalsprache aufbaute, sondern auf einer abgesprochenen Reihe von abgesprochenen Metaphern. Angeblich ging es darin um den Transport und den Verkauf von Waren. Zu dem Zeitpunkt wurde dann Johannes – Doktor Loyen – der Gruppe zugeteilt. Er war als Gerichtsmediziner in Deutschland, um an der Abwicklung der Konzentrationslager teilzunehmen.«
Sie kneift die Augen zusammen und sieht aus wie ein Schulmädchen.
»Ein sehr schöner Mann. Und sehr eitel. Das dürfen Sie ihm ruhig von mir bestellen, Herr Kapitän.«
Der Mechaniker nickt und knüllt seine Serviette in den Händen.
»Er war verbittert, weil bei den Identifikationen, auch im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen, nicht er, sondern die Gerichtsodontologen die Stars waren. Bei uns sollte er in medizinischen Fragen als Berater fungieren. Dazu kam es jedoch nicht. Irgendwann entdeckte ich, daß ›Niflheim‹ eine Expedition nach Grönland sein mußte. Loyen wußte etwas über Grönland. Vielleicht war er mal oben gewesen. Er erzählte nie davon. Aber er sprach gut deutsch. Allmählich arbeitete er gleichberechtigt mit uns anderen. Ende September waren wir durch. Ich habe den Kode geknackt. Ein Brief erwähnte, als Prognose, den Bohnenpreis der betreffenden Woche. Zahlengrößen, die jeden Tag etwas stiegen und am Freitag kulminierten. Ich schlug die Woche in meinem Schreib- und Reisekalender nach, den mir meine Mutter geschickt hatte. Freitag war Vollmond. Ich hatte mehrmals auf Vaters großem Colin Archer im englischen Kanal am Admirals Cup teilgenommen. Ich fand, daß die Zahlen wie Gezeitenbewegungen aussahen. Wir schlugen in den Almanachen der englischen Marine nach. Es waren Ebbe und Flut in der Elbe. Danach war es einfach. Wir brauchten drei Wochen, um uns rückwärts durch die Briefe zu dechiffrieren. Es ging um die Beschaffung eines Schiffes. Und darum, es nach Grönland zu bringen. Operation Niflheim.«
»Wozu?« frage ich.
Sie schüttelt den Kopf.
»Das habe ich nie erfahren. Ich glaube auch nicht, daß die anderen das wußten. In den Briefen ging es um den Schiffshandel – der wegen des Ausnahmezustands äußerst kompliziert war. Um die Möglichkeit, nach Kiel und durch die dänischen Gewässer zu fahren. Darum, wo die von Minen freigeräumten Strecken lagen. Um die englische Bewachung der Elbe und des Kieler Kanals. Doch die Briefschreiber wußten alle, worum es ging. Deshalb erwähnten sie es nie.«
Wir lehnen uns alle drei gleichzeitig zurück. Zurück in die Konditorei Goldene Brioche, in den Duft von Kaffee, in die Gegenwart, zu ›Satin Doll‹.
»Ich möchte gern ein Stück Torte«, sagt Benedicte Clahn.
Sie hat es verdient. Es kommt und sieht aus, als sei Sommer. Die Schlagsahne so frisch und weich und gelblichweiß, als hätten sie die Kuh hinten in der Bäckerei stehen.
Ich warte, bis sie sie gekostet hat. Der Mensch ist nur bedingt auf der Hut, wenn seine Sinne gestreichelt werden.
»Haben Sie das schon mal in anderem Zusammenhang erzählt?«
Sie will das gerade indigniert leugnen. Dann aber lösen ihre wiedererweckten Erinnerungen, ihr Vertrauen zu uns und vielleicht auch der Geschmack der Himbeeren etwas in ihr aus.
»Ich bin mit Diskretion als Selbstverständlichkeit aufgewachsen«, sagt sie.
Wir nicken beruhigend.
»Vielleicht haben Johannes Loyen und ich ein- oder zweimal über diese Dinge gesprochen. Aber das ist mehr als zwanzig Jahre her.«
»Kann das 1966 gewesen sein?«
Sie sieht mich überrascht an. Einen Augenblick lang bin ich in der Gefahrenzone. Dann sagt sie sich, daß wir das
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