Peter Hoeg
fünfundsiebzig Zentimeter Schnee.«
»Ich könnte mir unterwegs ein Paar Gummistiefel kaufen.«
»Du bist im Dienst«, sage ich. »Auf dem Weg in den diplomatischen.«
Er nickt mißmutig.
»Vielleicht wenn der Schnee schmilzt«, meint er. »Im Frühjahr.«
»Wenn wir dann noch leben«, sage ich.
Ich fahre in den Dyrehave hinaus. In der Nacht hat es geschneit. Ich habe meine Kamiken mitgenommen. Ein gutes Stück hinter dem Eingang ziehe ich sie an. Kamikensohlen sind sehr wenig strapazierfähig. Als Kinder durften wir nie in ihnen tanzen, wenn Sand auf dem Boden lag. Man konnte sie in einer Nacht verschleißen. Doch auf Schnee und Eis, wo die Reibung anders ist, haben sie eine enorme Haltbarkeit. Der neue Schnee ist leicht und kalt. Ich halte mich so weit abseits von den Wegen, wie nur irgend möglich. Einen ganzen Tag lang pirsche ich langsam und schwer durch schwarze, schneeglitzernde Zweige. Ich folge einer verschlungenen Rehfährte, bis ich ihren Rhythmus kenne. Das plötzlich alle hundert Meter auftauchende Hinken des Tieres, seine Gewohnheit, den Urin in kleinen Portionen abzugeben, ein bißchen rechts von seiner Fährte. Die Regelmäßigkeit, mit der es ein offenes, herzförmiges Feld bis auf die dunkle Erde freischarrt, um Blätter zu finden.
Nach drei Stunden sehe ich es. Es ist eine Ricke. Weiß, wachsam, interessiert.
Ich suche mir einen abgelegenen Tisch bei Peter Liep und bestelle heiße Schokolade. Dann lege ich das Papier mit den drei Namen vor mich hin.
Katja Claussen
Ralf Seidenfaden
Tørk Hviid
Ich krame den Briefumschlag von Moritz mit den Kopien der Zeitungsausschnitte hervor. Ich suche einen ganz bestimmten.
Der Raum füllt sich mit einer Gruppe von Kindern und Erwachsenen. Sie haben ihre Ski und Schlitten draußen abgestellt. Ihre Stimmen klingen laut und froh. Von der rätselhaften Wärme des Schnees.
Der Ausschnitt stammt aus einer englischsprachigen Zeitung. Vielleicht ist er mir deshalb aufgefallen. Weil er schief ausgeschnitten wurde, ist von der Überschrift ein Stück verschwunden. Man hat es dann handschriftlich mit einem grünen Kugelschreiber wieder dazugeschrieben. Das Datum ist der 19. März 1992. First Copenhagen seminar on Neocatastrophism. Professor, MD, Johannes Loyen, member of The Royal Danish Academy of Science, is giving the opening lecture.
Loyen steht auf einer Bühne, anscheinend ohne Manuskript oder Rednerpult. Der Raum ist groß. Hinter ihm sitzen drei Männer an einem Tisch, der sich wie ein Kreisausschnitt krümmt.
Behind him Ruben Giddens and Ove Nathan from Copenhagen University and Toerk Hviid, the . . .
Der Text ist abgeschnitten, die Fortsetzung der Zeile nicht mehr drauf. Die Setzmaschine hat für seinen Namen kein ø gehabt. Dadurch ist er auffällig geworden, deshalb habe ich mich daran erinnert.
Als ich nach Hause fahre, sinkt die Sonne glühend. Ich habe Herzklopfen. In dem Moment, in dem ich zur Tür hereinkomme, klingelt das Telefon.
Es dauert ewig, bis ich das rote Band abhabe. Ich spüre, daß es der Mechaniker sein muß, daß er es unzählige Male probiert haben muß.
»Hier ist Andreas Licht.«
Die Stimme ist schwach, als sei er erkältet.
»Ich schlage vor, daß Sie sofort kommen.«
Ich spüre eine Stichflamme der Irritation. Manche Leute lernen es nie, Befehle entgegenzunehmen.
»Muß das heute sein?«
Ein ersticktes Geräusch, als verberge er ein Lachen.
»Sie sind doch interessiert, oder . . .«
Der Hörer wird aufgelegt.
Da stehe ich, noch völlig angezogen, im Dunkeln, denn ich habe es noch nicht geschafft, das Licht anzumachen. Woher hat er meine Telefonnummer?
Ich hasse es, wenn ich hetzen muß. Ich habe andere Pläne für den Tag.
Ich stelle die Kamiken ab und gehe zurück, hinaus in den Kopenhagener Abend.
Auf der Treppe bleibe ich vor der Tür des Mechanikers stehen. Ich fühle mich versucht, ihn mitzunehmen. Erkenne jedoch das Gefühl als Schwäche.
In der Tasche habe ich einen Filzstift, aber kein Papier. Auf einen Fünfzigkronenschein schreibe ich: ›Südhafen, Svajerbryggen, Liegeplatz 126. Bin später wieder zurück. Smilla‹.
Die Nachricht ist ein Kompromiß zwischen meinem Schutzbedürfnis und der Gewißheit, daß man die Pläne, die man geheimhält, am besten durchsetzen kann.
Ich nehme ein Taxi zum Südhafenwerk. Vielleicht überträgt sich die Telefonparanoia des Mechanikers langsam auch auf mich, aber ich möchte sehr ungern eine deutliche Spur hinterlassen.
Vom Werk aus läuft man eine
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