Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Peter Hoeg

Peter Hoeg

Titel: Peter Hoeg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fräulein Smillas Gespür für Schnee
Vom Netzwerk:
wartest du, bis ich da bin. Am besten aber kommst du sowenig wie möglich nach Hause.«
    Er vermeidet es, mich anzusehen.
    »Wenn d-du nichts dagegen hast, kannst du solange bei mir wohnen.«
    Es bleibt offen, was dieses ›solange‹ beinhaltet.
     
    An der Universität gab es viele komische ethnologische Klischees. Eines davon war, wie hoch doch die europäische Mathematik bei den alten Kulturvölkern in der Schuld stehe, man brauche sich ja nur die Pyramiden anzuschauen, deren Geometrie einem Respekt und Bewunderung abnötige.
    Das ist natürlich als Schulterklopfen getarnte Idiotie. In der Wirklichkeit, die sie abgrenzt, ist die technologische Kultur souverän. Neben der Integralrechnung sind die sieben bis acht Faustregeln der ägyptischen Landmesser die reine Rechenbrettmathematik.
    Jean Malauri schreibt in Die letzten Könige von Thule , ein wesentliches Argument für das Studium der interessanten Polareskimos sei die Tatsache, daß man dadurch etwas über den Übergang des Menschen vom Neandertalerstadium zum Steinzeitmenschen lernen könne.
    Das ist mit einer gewissen Liebe geschrieben. Aber es ist eine Studie über nicht erkannte Vorurteile. Jedes Volk, das sich an einer von der europäischen Naturwissenschaft festgesetzten Notenskala messen läßt, steht immer als Kulturverbund höherer Affen da.
    Das Notengeben ist sinnlos. Jeder Versuch, die Kulturen nebeneinanderzustellen, um zu bestimmen, welche davon am höchsten entwickelt ist, führt immer nur dazu, daß die westliche Kultur noch einen weiteren beschissenen Versuch unternimmt, den Haß auf ihre eigenen Schatten auf andere zu projizieren.
    Es gibt nur eine Art und Weise, eine andere Kultur zu verstehen. Sie zu leben . In sie einzuziehen, darum zu bitten, als Gast geduldet zu werden, die Sprache zu lernen. Irgendwann kommt dann vielleicht das Verständnis. Es wird dann immer wortlos sein. In dem Moment, in dem man das Fremde begreift, verliert man den Drang, es zu erklären. Ein Phänomen erklären heißt, sich davon entfernen. Wenn ich anfange, mit mir selber oder anderen von Qaanaaq zu reden, habe ich fast wieder verloren, was nie richtig mein gewesen ist.
    Wie jetzt auf seinem Sofa, wo ich Lust habe, ihm zu erzählen, weshalb ich an die Eskimos gebunden bin. Daß es mit ihrer Fähigkeit zu tun hat, ohne jeden Zweifel zu leben in dem Wissen, daß das Dasein sinnvoll ist. Daß es mit der Art und Weise zu tun hat, wie sie in ihrem Bewußtsein mit unvereinbaren Gegensätzen leben, ohne an deren Widersprüchen zugrunde zu gehen oder nach einer vereinfachenden Lösung zu suchen. Daß es mit ihrem kurzen, kurzen Weg zur Ekstase zu tun hat. Weil sie einem Mitmenschen begegnen und ihn so sehen können, wie er ist, ohne zu bewerten und ohne ihren klaren Blick durch Vorurteile trüben zu lassen.
    All das drängt es mich, ihm zu sagen. Diesen Drang lasse ich jetzt wachsen. Ich spüre, wie er mir aufs Herz, auf den Hals, hinter die Stirn drückt. Ich weiß, daß das so ist, weil ich in diesem Augenblick glücklich bin. Nichts korrumpiert ja so sehr wie das Glück. Es läßt uns glauben, daß wir, wenn wir diesen Moment mit jemandem teilen, auch die Vergangenheit mit einschließen können. Wenn der Mechaniker stark genug ist, mir entgegenzukommen, kann er wohl auch meine Kindheit in sich aufnehmen.
    Dann lasse ich los. Der Drang zu erzählen ist eine Spannung. Sie steigt empor und verschwindet durch die Decke, und der Mechaniker wird nie auch nur ahnen, daß sie existiert hat.
    Er brät Bananen. Er läßt sie im Ofen, bis die Schale schwarz ist. Inzwischen röstet er Haselnüsse. Auf dem Toaster. Er versichert mir, daß sie dadurch g-gleichmäßiger geröstet würden.
    Er ist feierlich wie ein Pfarrer. Ohne jeden Hang zu lachen. Er macht einen Schnitt in die Bananen. Sie sind gelb und dickflüssig. In den Schnitt träufelt er Heidehonig und ein paar Tropfen Likör.
    Meinetwegen könnte die Welt jetzt stehenbleiben. Niemand braucht mehr irgend etwas zu sagen.
    Er tupft seine Lippen mit der Serviette ab. Empfindsame Lippen und ein breiter Mund. Eine irgendwie dicke Oberlippe.
    »1966 fahren sie hoch. Dann ist es fünfundzwanzig Jahre lang still. Danach fahren sie wieder hoch. Anschließend ist es anderthalb Jahre still. Dann kommt der Baron um. Dann interessiert sich die Polizei sehr dafür. Dann brennt das Museum.«
    Wir möchten beide, daß der andere es sagt.
    »Die Sache kommt irgendwie in Bewegung, Smilla.«
    »Ja«, sage ich.
    »Sie bereiten wieder eine

Weitere Kostenlose Bücher