Peter Nimble und seine magischen Augen
weniger Minuten überflutete das Salzwasser sämtliche Brunnen, Becken und Badezimmer des Königreichs. Kleine Meeresfische wurden in Häuser und Palastsäle geschwemmt, wo sie auf dem Steinboden liegen blieben und zappelnd nach Luft schnappten. Die Fluten strömten die Treppen hinunter, donnerten wie mächtige Wasserfälle von den Palastmauern und füllten den riesigen Abgrund, bis die Wellen gegen das Ufer am Fuß des Palastes schlugen. Das abgeschiedene Königreich war wieder zu einer Insel geworden, umgeben von funkelndem blauem Meer.
Incarnadine verfolgte die Verwandlung genüsslich grinsend vom Balkon seines Ankleidezimmers. Endlich hatte er den Fluch seines elenden kleinen Bruders aufgehoben. SeineKriegsflotte, die bis eben noch über einem leeren Abgrund geschwebt hatte, schwamm jetzt auf dem Wasser, bereit zur Eroberung. Ein paar Stunden zuvor hatte er gesehen, wie sein Luftschiff in der Wüste gelandet war. Nun musste das Gefährt jeden Moment mit einer Legion dankbarer Diebe zurückkommen, und dann war seine Armee vollständig. Er drehte den Schlüssel im Schloss seiner Rüstung, und sämtliche Federn in ihrem Innern spannten sich. Unter seinem Brustpanzer befand sich eine geniale Technik, mit deren Hilfe er bereits ein Königreich gestürzt hatte. Das erste von vielen. »Bald wird man in jedem Winkel der Weltkarte meinen Namen fürchten«, sagte er mit Blick auf das Wasser.
In dem Moment sprangen zwei Türen gleichzeitig auf.
»Euer Majestät!«, sagte Langkralle, der von rechts kam.
»Euer Majestät!«, sagte Pranke, der von links kam.
Incarnadine fuhr herum und funkelte beide wütend an. Er hasste es, vor dem Frühstück gestört zu werden. »Was gibt’s?!«, fauchte er.
Langkralle sprach als Erster. »Sire, das Luftschiff, das ich wie geplant auf den Weg geschickt habe, ist bisher nicht zurückgekommen. Ich fürchte, die Diebe sind womöglich in der großen Flut ertrunken, die Ihr so brillant ausgelöst habt.« Der Affe hatte die halbe Nacht darüber nachgegrübelt, ob es klug war, seinem Herrscher mitzuteilen, was tatsächlich mit dem Luftschiff geschehen war, und hatte beschlossen, es lieber zu lassen.
»Halb so wild, Langkralle.« Der König winkte ab. »Aber das mit der Flut war wirklich brillant, nicht wahr?« Dann wandte er sich zu Pranke. »Und was willst du?«
»Die Raben greifen an!«, sagte der zweite Affe. »Sie haben die Sklaven aus den Minen befreit und sind in diesemMoment auf dem Weg nach oben. B-B-Bitte vergebt mir, Herr!« Er lächelte schwach und hoffte, dass der König ihm gegenüber dieselbe Nachsicht zeigen würde wie gegenüber Langkralle.
»Natürlich vergebe ich dir.« Incarnadine hob seine gepanzerte Hand, als böte er sie dem Affen zum Kuss. »Aber nur dieses eine Mal.« Er bewegte seinen kleinen Finger, und aus seinem Handgelenk schoss eine Klinge hervor und schlitzte Pranke die Kehle durch. Mit einem dumpfen Poltern fiel der Kopf des Ungeheuers zu Boden. Sein restlicher Körper sank zur Seite.
Langkralle beglückwünschte sich dazu, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Wie lautet Euer Befehl, Sire?«
Mit einer kurzen Handbewegung schleuderte der König die schmierigen Affenreste von seiner Klinge und schob sie zurück in ihre verborgene Halterung. »Na, wie schon? Bereite alles für die Schlacht vor!« Er warf seinen Umhang über die Schulter und marschierte hinaus in den Flur. »Schlag Alarm! Ruf deine Truppe zusammen! Beorder alle Bürger sofort in den Speisesaal! Wenn diese Göre Blut haben will, dann soll sie Blut kriegen!«
Raben ergossen sich aus jedem Wasserhahn im Palast. Das hereinschießende Meerwasser hatte sie durch die Rohre nach oben in die Küchen und Badezimmer getragen. Langkralle stürmte durch den Hauptgang, in jeder Hand einen Speer. »Stürmt die Häuser, lasst keinen von ihnen entkommen!« Hinter ihm marschierte der Rest seiner Truppe, bewaffnet mit Netzen und Katapulten.
Wieder einmal kämpften Simon und seine Brüder um ihr Leben. Federn und Fellbüschel flogen in alle Richtungen,als die Schlacht sich ins Zentrum des Palasts verlagerte. Langkralle brüllte von der Treppe aus Befehle, die Katapulte abzufeuern und nachzuladen. »Bleibt dicht bei den Mauern, Soldaten!«, donnerte er. »Im offenen Raum kriegen sie euch!« Immer wieder griffen die Raben an und hackten mit verzweifelter Wut auf ihre Gegner ein, doch die Affen waren viel stärker als die Diebe der Bußwüste. Mit einem Hieb ihrer mächtigen Pfoten konnten sie
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