Peter Pan
durch Feuer und Folter, denn steht in den Stammesbüchern nicht geschrieben, daß zu den ewigen Jagdgründen kein Weg durch das Wasser führt? Trotzdem verzog Tiger Lily keine Miene.
Sie war die Tochter eines Häuptlings, und sie würde wie die Tochter eines Häuptlings sterben. So ist das.
Sie hatten sie gefangen, als sie mit einem Messer im Mund an Bord des Piratenschiffes kletterte. Niemand hielt Wache auf dem Schiff, weil Hook sich immer damit brüstete, daß sein schlechter Ruf das Schiff im Umkreis einer Meile von selbst bewachte. Nun würde die Kunde von Tiger Lilys Schicksal den schlechten Ruf noch festigen.
In der Dunkelheit, die sie selber verbreiteten, sahen die beiden Piraten den Felsen nicht, bis sie mit ihm zusammenkrachten.
»Luv, du Dussel!« rief eine Stimme. Sie gehörte dem Iren Smee. »Hier ist der Felsen. Na los, rauf mit der Rothaut, da soll sie ersaufen.«
Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, da hatten sie das schöne Mädchen brutal auf den Felsen geworfen. Sie war zu stolz, um Widerstand zu leisten, der keinen Sinn hatte. Ganz in der Nähe des Felsens, aber unsichtbar für die Piraten, tauchten zwei Köpfe auf, die Köpfe von Peter und Wendy. Wendy weinte, es war die erste Tragödie, die sie miterlebte. Peter hatte viele Tragödien erlebt, aber er hatte sie al e vergessen. Ihm tat Tiger Lily weniger leid als Wendy. Zwei gegen eine, das ärgerte ihn, und er beschloß, sie zu retten. Am einfachsten wäre es gewesen, wenn sie gewartet hätten, bis die Piraten abzogen, aber er hatte nie zu denen gehört, die es sich einfach machen.
Es gab fast nichts, was er nicht konnte, und jetzt ahmte er Hooks Stimme nach.
»Ahoi, ihr Landratten!« rief Peter. Er machte das fabelhaft.
»Der Käptn«, sagten die Piraten und guckten sich verblüfft an.
»Er muß uns nachgeschwommen sein«, sagte Starkey, nachdem sie vergebens nach ihm Ausschau gehalten hatten.
»Wir setzen die Rothaut auf den Felsen«, rief Smee.
»Laßt sie frei!« hörten die beiden Piraten zu ihrer Überraschung.
»Frei?«
»Ja, schneidet die Fesseln los und laßt sie frei!«
»Aber Käptn …«
»Sofort, verdammt«, rief Peter, »oder ich durchbohr euch mit dem Haken.«
»Das ist seltsam«, keuchte Smee.
»Besser, wir tun, was der Käptn befiehlt«, sagte Starkey nervös.
»Ay, ay«, sagte Smee und zerschnitt die Fesseln. Sofort schlüpfte Tiger Lily durch Starkeys Beine ins Wasser.
Natürlich freute Wendy sich sehr über Peters Schlauheit, aber sie wußte auch, daß er sich genauso freuen und deshalb wahrscheinlich krähen und sich verraten wür-de. Darum wollte sie ihm schnell den Mund zuhalten, aber ihre Hand erstarrte, denn plötzlich tönte es »Schiff ahoi!« über die Lagune; es war die Stimme von Hook, und diesmal war es die echte.
Vielleicht wollte Peter gerade krähen, aber jetzt pfiff er durch die Zähne – vor Überraschung.
»Schiff ahoi!« rief es wieder.
Nun begriff Wendy. Der echte Hook war auch im Wasser.
Er schwamm auf das Boot zu, und als seine Leute ihm mit einer Laterne den Weg leuchteten, hatte er es bald erreicht. Im Licht sah Wendy, wie er den Haken in die Bootswand schlug, und als er tropfnaß ins Boot kletterte, sah sie sein böses, finsteres Gesicht. Sie bebte und wäre am liebsten weggeschwommen, aber Peter bewegte sich nicht von der Stelle. Ihn juckte das Fell, und er war wieder einmal ungeheuer eingebildet. »Bin ich nicht ein Teufelskerl!« flüsterte er Wendy ins Ohr, und obwohl sie das auch fand, war sie froh, daß ihn sonst niemand hörte – was hätten die Leute denken sollen?
Er machte ihr ein Zeichen: »Still! Paß auf!«
Die beiden Piraten waren sehr neugierig, was wohl ihren Kapitän hierher getrieben hätte, aber der saß, den Kopf auf den Haken gestützt, nur tief melancholisch da.»Käptn, ist ales in Ordnung?« fragten sie zaghaft, doch Hook antwortete nur mit einem hohlen Stöhnen.
»Er seufzt«, sagte Smee.
»Er seufzt schon wieder«, sagte Starkey.
»Er seufzt sogar ein drittes Mal«, sagte Smee.
»Was ist, Käptn?«
Dann sprach er endlich, tief bewegt: »Das Spiel ist aus!« rief er. »Die Jungen haben eine Mutter.«
Obwohl Wendy furchtbare Angst hatte, platzte sie fast vor Stolz.
»O schwarzer Tag!« rief Starkey.
»Was ist eine Mutter?« fragte der ahnungslose Smee.
Wendy war so schockiert, daß sie ausrief: »Das weiß er nicht!«, und danach dachte sie immer: Wenn man sich einen Lieblingspiraten aussuchen könnte, dann würde ich Smee
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